Blutstürze

■ Tradition und Cyber im Clubformat: „No Time To Lose“ von Joachim Hamster Damm

Es ist eine Nacht der Überschneidungen. Das Festival „Theater der Welt“ feiert mit und in der Volksbühne eine rauschende Clubnacht. Auf der Hauptbühne gibt's erst Frank Castorfs „Dämonen“, dann Disco mit Trommeln und Bässen, in den Foyers Cocktails, Sitzgelegenheiten und schöne, fremde Gesichter. Die auch so aussehen, als fühlten sie sich fremd zwischen kühlem Marmor und kühlen Beats.

Im Roten Salon dagegen ist es heiß. Dort drängeln sich die Nachtgewächse, denn hier soll mitternachts nicht nur Musik sein, sondern Theater sich fortsetzen: Joachim Hamster Damm, bei „Theater der Welt“ sozusagen für Deutschland am Start, präsentiert Konzertantes zu Mensch und Maschine im Clubformat, und zwar so, daß die Zeit anders vergeht als sonst und man sich dessen bewußt wird obendrein.

Figurin wird es sein und technoid, denn Damm kommt aus der Bühnenbildung und erforscht die Analogien zwischen digitalen Maschinerien und natürlichen Stoffen. Wohlan, das erste Bild oder Experiment beginnt verheißungsvoll stillebendig blau, ein sanftes Tableau aus projiziertem Meer und Eisberg, nofretetischem Hamsterkopf und gebasteltem Titanic-Modell. Ganz langsam saugen sich Mensch, Bild und Objekt zusammen zur Skultpur, umweht von Klangrausch.

Das chillt noch out, ein guter Einstieg für eine hypnotische Meditation über virtuelle Ozeane und Untiefen. Doch Experiment zwei, als russische Injektionsmaschine annonciert, zieht gewaltig an, in Tempo und plumper Symbolik leider auch. DJaying the revolution, Fähnchen werden gesteckt, Monde erobert, Kosakenchöre gemixt mit russischem und reichsdeutschem Politpopanz, trotz Rhythmusmaschine ganz historisch und hysterisch. Gartenzwerg und Robotnik, Masken und Tänze von guten oder jungen Wilden, Diktatoren als Diktiergeräte: das prasselt presto auf eine Bühne, die plötzlich wieder Guckkasten wird. Kasten, auf den kaum zu gucken ist im rauchigen Gedränge, wo das Blut vom Hirn in die Füße fällt. Was nicht zum Tanzen einlädt.

Denn vorne wird „Auschwitz“ gesagt, im Arztkittel Kunstunterricht getrieben und materialistisch fortgeschritten, ein Perpetuum mobile zusammengesetzt zur dreidimensionalen Schwitters-Zwitter-Collage, digital beäugt vom puppigen Kopf des Performers. Daneben turnt der echte, Hamster Damm, Priester im Synkretismus.

Alles da: Tradition und Cyber, Genie und Handwerk. „Ganz banal gesagt, hat der Mann einfach keinen Groove“, findet jemand, dem keine Erweckung widerfuhr. Zeit, vom Theater in die Nacht zu fließen, auch wenn sie an diesem Ort auf einmal so deutsch schmeckt: no time to lose.

Eva Behrendt

Heute abend um 24 Uhr, Maria am Ostbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8 – 11