Probesterben in Amsterdam

■ Die letzten Minuten von Thomas Bernhard. Ein Castingbericht

Ich sag's nur noch mal: daß ich Thomas Bernhard nicht ähnlich sehe, und zwar „überhaupt nicht“, höre ich mich noch, einen Hauch zu kursiv, sagen, wohl weil ich befürchtete, daß man genau dies suchte. Nein, wurde ich beruhigt, davon könne gar nicht die Rede sein, schließlich habe man ja die Videos mit mir gesehen.

Nun gut, auf zum Casting, auf Zehenspitzen auf den Edelstrich; nach Amsterdam, wo Frau F. seit geraumer Zeit ihre zwanzig Jahre zurückliegenden Begegnungen mit dem grantelnden und sterbenden Barockdichter zu einem Spielfilm ummünzen will. Am Flughafen Schiphool, einer Endloseinkaufszone von fast belgischen Dimensionen, war der mir von der Produktion avisierte „driver“ nirgendwo zu sehen; ich humpelte weiter in das Konsumlabyrinth hinein – tags zuvor hatte ich mir bei der Besichtigung eines Ostberliner Ruinengeländes das linke Knie bös verdreht – und irgendwann tauchte der „driver“, Mijnheer Fischer, abgehetzt auf und kutschierte mich zur Prinsengraacht. Auf dem Weg ließ er mich wissen, daß ich gleich „the chance“ hätte, mit der Regisseurin zu sprechen –, und für ein paar unzusammenhängende Augenblicke huschten Gedankenreste über die Zerstörung des Englischen durch die Außer-Englischen an mir vorüber, und ich hörte auch gar nicht weiter hin, es war ohnehin zu laut und zu heiß, as usual.

Prinsengraacht. Träges Schattenspiel auf dem lehmigen Wasser. Man könnte träumen. Die weiße Haustür wird geöffnet, und der III. gruppendynamische Lehrsatz vom Casting, wie Godard ihn formuliert hat, tritt in Kraft: Scast 2 sec [sic]. In Worten: „In ungefähr zwei Sekunden ist das casting entschieden.“ Frau F. begrüßt mich und erschrickt, sie blickt mir nur sehr kurz in die Augen, mustert mich flink; ihre Augen wandern um meinen Kopf herum und über mein spärliches Haar – und meine Niederlage ist besiegelt. (Für einen winzigen Augenblick glaubte ich in ihrem Blick eine Variante des sog. Babelsberger Polyphem-Syndroms wiederzuerkennen, demzufolge der „Partner“ bzw. Feind nicht „ins Auge gefaßt“, sondern etwa daumenbreit über der Nasenwurzel fixiert wird – eine fast unschlagbare, zu DDR-Zeiten entwickelte heroische Technik des filmischen Blickaustausches, die heute leider etwas in Verruf geraten ist, wie die DDR ingesamt ja auch ein wenig).

Ich werde ins Haus gebeten, Mister Fischer kramt währenddessen aus einer Sporttasche eine verschrumpelte Videocamera, und ich bespreche mit Frau F. die zu castende Szene. Es ist nichts Geringeres als die Sterbeszene des Dichters, so wie Frau F. sie zwar nicht erlebt, aber Jahre später nachempfunden hat. Im kargen Zwiegespräch mit einer jungen Frau verlange ich, Thomas Bernhard, nach frischen Socken und erlebe, auf dem Diwan liegend, diese Begegnung als einen sanften, von heftigen Hustenanfällen sekundierten Abschied. Herr Fischer steht einmal fast über mir, dann wieder turnt er an meinen Füßen herum; seine Kameraführung wirkt dogmamäßig verwackelt, allerdings auch sehr unbeteiligt; eine Möglichkeit, sich das Gefilmte anzusehen, gibt es nicht, weil das passende Kabel unauffindbar ist. Mein Spiel wird eher achtlos zur Kenntnis genommen; mal soll ich ein wenig entschiedener, mal etwas hinfälliger wirken ...

Kein Wunder, nachdem die Sache längst gelaufen ist, denke ich. Einmal fragt Frau F. mich, ob ich auch den österreichischen Dialekt des Dichters beherrsche. Ich bejahe und hake nach: Ob es ihr denn darauf ankäme, schließlich ginge es doch, wenn ich die österreichischen Koproduzenten richtig verstanden habe, keineswegs um die naturalistische Darstellung eines Österreichers ... Meine Rückfrage versandet.

Nachdem wir die Sterbeszene sieben- oder achtmal gespielt und aufgenommen haben, wird meine junge Partnerin und Stichwortgeberin hinauskomplimentiert; bald darauf steckt mir Fischer, daß sie vor zwei Jahren für diese Rolle vorgesehen war, dann aber gefeuert wurde. Zusammen mit Frau F. gehen wir in ein Café um die Ecke, am Joordaansplein, eine Delegierte des Produzenten kommt hinzu, und die beiden Frauen erläutern mir die Soziologie dieses Pleins, der so ziemlich alle fürchterlichen Ingredienzien eines „Kiezes“ („Ist das am Ende ein niederländisches Wort?!“ durchfährt es mich) aufweist. Ich trinke gegen meine Gewohnheit ein nachmittägliches Bier und gerate dadurch in eine ganz morastige Stimmung, verschwende ein paar Nicht-Gedanken auf mein dickes Knie und frage mich, was mich geritten hat, hierher zu kommen, mich casten zu lassen. Allerschwerste Sinnfragen kollern hinterher und plumpsen sogleich unbeantwortet in die Graacht.

Unvermittelt schaut mich Frau F. wieder von der Seite an und fragt ganz unschelmisch, ob ich mir nicht vielleicht doch die Haare hinten am Kopf länger wachsen lassen könnte? „Sie wachsen nicht, zumindest werden sie nicht wesentlich länger“, gebe ich nun schon fast mürrisch zurück. Es ist Zeit aufzubrechen. Herr Fischer chauffiert mich zurück, und ich fliege, um eine Erfahrung ärmer und eine flüchtige Städteansicht reicher, zurück in den sommerlichen Osten. Hanns Zischler