Islam als Lehrfach

Der Blick auf andere Länder zeigt andere Lösungsansätze, wie die Einrichtung einer islamischen Fakultät zur Ausbildung von Islamgelehrten  ■ Von Semiran
Kaya

Mittlerweile gibt es über 750.000 muslimische Schüler in Deutschland. Fakt ist auch, daß die Zahl der hier lebenden muslimischen Migrantenkinder mit und ohne deutschen Paß zunimmt. Der Anspruch auf Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bleibt ihnen dennoch vorenthalten. Auch die zweistündige sogenannte islamische Unterweisung im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts kann dem eigentlichen Anspruch dieser Kinder nicht gerecht werden. Während beispielsweise in Hamburg und Hessen jüdische Schüler durch Talmudkenntnisse sogar ihre Abiturnoten verbessern können, ist es für muslimische Jugendliche kein ordentliches Lehrfach. So können die meist nur schlecht Deutsch sprechenden Hodschas aus der Türkei im Koranunterricht ungestört und ohne Einblick der Behörden ihre Interpretation des Korans verbreiten. Diese willkürliche Auslegung der Hodschas ist vor allem deswegen so erfolgreich, weil viele Muslime in der Diaspora selbst nur wenig über ihre Religion wissen. Manche Eltern können nicht einmal lesen und schreiben.

Um sie und ihre Kinder als anerkannte Gesellschaftsmitglieder zu unterstützen, wäre die Einführung von Islamunterricht an Schulen ein erster wichtiger Schritt. Denn gerade dieser Bildungsmangel, vermischt mit der offensichtlich verfehlten Integrationspolitik in Deutschland, erlaubt es, daß Kinder und Jugendliche von islamischen Organisationen indoktriniert werden. Deutschland und seine Schulbehörden fühlen sich offensichtlich für die zweite und dritte Generation der Einwanderer immer noch nicht zuständig.

Der Blick auf andere Länder zeigt, daß sie ihre Migranten mit der dazugehörigen Kultur bzw. Religion längst integriert haben. So können beispielsweise in Großbritannien islamische Grundschulen seit letztem Jahr eine staatliche Unterstützung erhalten. Österreich praktiziert seit 15 Jahren erfolgreich islamischen Religionsunterricht. Und in den Niederlanden, wo die Migranten ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind, gibt es islamische Kindergärten und Schulen, eine enge Kooperation zwischen den Städten und Moscheen und – seit September 1998 – auch eine islamische Universität, die unter anderem Imame ausbildet. Mit dieser Institution will man den 700.000 Muslimen, die in den Niederlanden leben, einen eigenen Zweig der akademischen Ausbildung ermöglichen und einen Beitrag zum multireligiösen Zusammenleben leisten. „In den Niederlanden begegnen wir den gleichen Ängsten wie in Deutschland, wenn es um das Thema Islam geht. Der Islam wird sowohl falsch verstanden als auch falsch beigebracht. Auch wir haben ihn den Muslimen falsch erzählt. Die Türken zum Beispiel sind in der Geschichte bis vor Wien gekommen, die Araber sind bis Frankreich gekommen, und wir, die Muslime, haben damit die Europäer nachhaltig verängstigt“, erklärt der Direktor der Islamischen Universität Rotterdam (IUR), Dr. Süleyman Damra. Der Islam als historische Bedrohung.

Damit sich dies ändert, will die IUR einen eigenen Beitrag zur Synthese des Islams in Europa leisten. Man wolle die Islam-Auslegung weder europäischen Orientalisten noch den Moscheen überlassen. Vielmehr müßten die in Europa lebenden Muslime auch selbst die Verantwortung für das Zusammenleben tragen. Bis heute hätten die Muslime außer ihrer „beängstigenden Auslegung und Umsetzung des Islams“ nicht viel dazu beigetragen. „Was nützt uns ein Islamgelehrter aus der Türkei, der die gesellschaftliche Realität der hier lebenden Muslime nicht kennt und zum Beispiel die Homosexualität tabuisiert?“ fragt Damra.

Die in Westeuropa lange vernachlässigte intellektuelle und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben will die Rotterdamer Universität nun aufgreifen: Durch ein vierjähriges Islamstudium, das zum Imam, zur geistlichen Autorität oder zum akademischen Wissenschaftler ausbildet, will man der Selbstauslegung des Islams in der Diaspora und der damit verbundenen negativen Entwicklung entgegenwirken. Mit Professoren und Dozenten aus fünf Ländern versucht die Islamische Universität der internationalen Auseinandersetzung, der Vielfalt der Kulturen innerhalb des Islams und der islamischen Wissenschaft gerecht zu werden.

Die 1998 gegründete IUR muß sich nun erst einmal vier Jahre behaupten, um von der Regierung als unabhängige staatliche niederländische Universität anerkannt und finanziert zu werden. Aber das Projekt läßt hoffen: Nur durch solche institutionelle Einrichtungen und in Verbindung mit der jeweiligen Landesbevölkerung kann man den vielen Gruppierungen und der Akzeptanz des Islams als Religion in Europa Rechnung tragen.

Doch von all den möglichen Wegen, die andere Länder bereits erfolgreich eingeschlagen haben, will Deutschland, das nach Damra in diesen Angelegenheiten „zurückgeblieben“ ist, nichts wissen. Auch die Tatsache, daß Deutschland nach Frankreich die meisten Muslime in Westeuropa beheimatet, ändert nichts an der Situation. Diese Haltung verdeutlicht erneut die Grundproblematik für die hier lebenden Muslime: das Gefühl, vom deutschen Staat und seiner Gesellschaft auf das Fremdsein festgelegt zu werden, das auch auf die zweite und dritte Generation der Migrantenkinder übertragen wird. Und dieses Fremdsein unterstützt den Rückzug ins Religiöse, wo sie eine Gemeinschaft vorzufinden hoffen, deren Identität nicht das Fremdsein, sondern das Islamische ist. Selbst Wissenschaftler vom Zentrum für Türkeistudien in Essen meinen, daß „zunehmend junge Türken ihre Wurzeln im Islam suchen“. Der Islam, der aufgrund seines polaren Weltbildes viel bieten kann, wird zur neuen Heimat. Die nichtdeutsche Identität wird von manchen Muslimen provokativ nach außen gekehrt. So sehen viele Muslime in Deutschland nur den Rückzug in die enge Glaubensgemeinschaft der Moscheen, die den Mitgliedern bei Nichterfüllung der zum Teil eigens vorgeschriebenen Pflichten die Hölle im Jenseits prophezeien.

Ein islamischer Religionsunterricht an den Schulen könnte bei der Identitätssuche von Kinder und Jugendlichen helfen – zumal andere institutionelle Möglichkeiten trotz jahrelanger Diskussionen kaum bestehen. Doch in der Frage nach dem Wie und vor allem dem Wer sind sowohl die deutschen als auch die islamischen Organisationen gespalten. Bei der Vielzahl und der unterschiedlichen Ausrichtung all der islamischen Organisationen verweisen deutsche Behörden gern auf das Fehlen einer „zentralen religiösen Autorität“, mit der verbindliche Lehrpläne abgestimmt werden könnten. Aber ist dieses Bedauern ernst gemeint, oder sind sie letztlich nicht froh, daß sie sich mit diesem Argument aus der Affäre ziehen können? „Das Argument, daß es keinen geeigneten Ansprechpartner in dieser Frage gebe, kann so nicht gelten. Es gibt Verbände, die sich zusammengeschlossen und einen Lehrplan entwickelt haben“, sagt Marlies Wehner vom Fachausschuß des Zentralrats der Muslime in Bonn. Dabei ist die Diskussion nicht neu. Schon 1986 und 1995 scheiterten die Diskussionen über einen islamischen Religionsunterricht aufgrund von Meinungsverschiedenheiten. Geeignete Modelle konnten nicht gefunden werden. Ein Dachverband verschiedener islamischer Organisationen wurde damals allerdings ausgeschlossen. So bemühen sich alle beteiligten Seiten weiterhin um eigene, voneinander unabhängige Modelle: Während der Islam- und Zentralrat eine Gleichstellung der Religionen an den Schulen anstreben und verschiedene kleinere Verbände bundesweit für sich agieren, will das nordrhein-westfälische Bildungsministerium an 37 Schulen Islamkunde als eigenständiges Unterrichtsfach auf deutsch starten. Dieser Schulversuch, der im Schuljahr 1999/2000 beginnen soll, sieht erstmals den Islamunterricht als „ordentliches Fach“ vor. Mit diesem Schulversuch soll den muslimischen Schülerinnen und Schülern „die islamische Tradition in ihrer Geschichte, Ethik und Religion vermittelt“ werden. Wie aber soll diese Islamkunde den Kindern dabei helfen, „in einem säkularisierten, von christlicher Kultur geprägten Land als Muslime zu leben“, wenn anstatt der islamischen Verbände und Moscheen die Landesausländerbeiräte in die Unterrichtsgestatung mit einbezogen werden? Die Aachener Soziologin Irmgard Pinn kann hier nur zynisch fragen „warum die sich nicht gleich an den ADAC gewendet“ haben.

Wenn man sich darauf verständigt, daß Integration tatsächlich das erwünschte gesellschaftliche und politische Ziel darstellen soll, sollte der Einrichtung einer islamisch-theologischen Fakultät in Deutschland nichts mehr im Wege stehen. Denn ohne die entsprechende kulturelle Bildung bleibt die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft eine Illusion, die weitere Gefahren in sich birgt. „Deutschland hätte mit seinen islamischen Organisationen keine Probleme, wenn eine islamische Fakultät den Islamunterricht übernähme. Dann müßte man sich weder über die Organisationen noch deren Ideologien streiten, und den Kinder könnte so ein national unabhängiger Islamunterricht zuteil werden“, meint Damra.

Was nützt uns ein Islamgelehrter, der die Realität der Muslime nicht kennt und beispielsweise Homosexualität tabuisiert?