Ein Lämmchen wartet auf der Landebahn

■ Der Seelenfrieden der Engländer ist in größter Gefahr: Anna Kournikova ist das Objekt ihrer pathologischen Begierden. Heute droht sie gegen Venus Williams auszuscheiden

Wimbledon (taz) – Der heutige Montag hat gute Chancen, als besonders schwarzer in die Annalen der britischen Boulevardpresse einzugehen. Anna Kournikova, die „russische Antwort auf Baby Spice“ (The Independent), der Liebling aller Briten und insbesondere der sensationslüsternen Tabloids, ist in ihrem Achtelfinalmatch gegen Venus Williams akut vom Ausscheiden aus dem Wimbledon-Turnier bedroht. Was sollen sie fotografieren, was sollen sie schreiben, wenn der Horror des frühen Abgangs tatsächlich Wirklichkeit wird? Tim Henman? Greg Rusedski? Boris Becker?

Obwohl die mittlerweile 18jährige Russin ihr Lolita-Image von vor zwei Jahren, als ihr Halbfinal-Einzug den Engländern zum pädophilen Exzeß geriet, abgelegt hat und sich inzwischen als erwachsene Frau präsentiert, ist ihre Anziehungskraft nicht geschmolzen. Extraplätze für Fotografen müssen freigeschaufelt werden, die Ränge sind rappelvoll, das Stadion hallt von begeisterten „Come on, Ännä“-Rufen wider. Wäre Tennis nicht ein Sport, der ein gewisses Maß an Ruhe gebietet, würden die Zuschauer vermutlich die ganze Zeit, so wie die Liverpooler Fußballfans ihr „You'll never walk alone“, den alten Beatles-Song „Anna“ singen: „Girl before you go now, I want you to know now, that I still love you so.“

In den Pressekonferenzen kommen die Vertreter der Gutter Press meist schnell zum Thema. Ein paar lästige Fragen zum Match, dann geht es zügig zum Thema Boyfriend, und es entwickeln sich Debatten wie jene, die der Guardian als die „Anna-Kournikova-Verlobungsring-Tapes“ bespöttelt. Nachdem die Russin behauptet hatte, keinen „Boyfriend“ zu haben, danach aber wieder mit ihrem Dauerbegleiter Sergej Fedorov, Eishockeyprofi von den Detroit Red Wings, gesehen wurde, hatte ein adlerhaftes Gutter Eye einen bisher unbekannten Ring an ihrem Finger erspäht. Aufgeregt: „Anna, was ist das für ein Ring?“ „Ich trage alle möglichen Ringe. Das heißt nichts.“ Dringlich: „Hat der Ring eine besondere Bedeutung?“ „No comment.“ Noch dringlicher: „Ist der Ring von Sergej?“ „No comment.“ Neuer Ansatz: „Hast du einen Boyfriend?“ „No comment.“ Beleidigt: „Aber das ist unfair. Vorgestern hast du gesagt, du hast keinen Boyfriend, und jetzt willst du gar nicht mehr darüber reden.“ „No comment.“ Schrill: „Anna, bist du verlobt?“ „No comment.“ Pressechef: „Bitte nur Fragen zum Tennis.“ Chor: „Das sind Fragen zum Tennis.“ Neuer Versuch: „Anna, was war das für ein Ring?“ „No comment.“ Resigniert: „Gehen dir diese Fragen eigentlich auf die Nerven?“ Boshaftes Lächeln: „Aber nein, das gehört zum Job.“

Zum Job gehört auch das Tennisspielen, das bislang nicht sonderlich berauschend war. Ganz im Gegensatz zu dem der 19jährigen Venus Williams, die von Steffi Graf als erste Rivalin im Kampf um den Titel genannt wurde. Die 1,86 m große Amerikanerin schlägt mittlerweile auf wie Ivanisevic, und wäre bei ihrem 6:1, 6:1 im Drittrundenmatch gegen Sarah Pitkowski, die sich vorkommen mußte wie ein Lämmchen in der Landebahn eines Jumbo-Jets, ein Geschwindigkeitsmesser installiert gewesen, sie hätte ihren Rekord von 127 Meilen pro Stunde sicher gebrochen. Dazu hat sie heute Gelegenheit, denn gegen Kournikova ist ihr der Centre Court samt Meßgerät sicher. „Ich habe Anna hier schon viel spielen sehen“, verriet sie leicht sarkastisch, „im Fernsehen bringen sie alle ihre Matches. Die Briten scheinen sie zu lieben.“

Gemäß dem ihr hartnäckig anhängenden Klischee vom rüden Ghetto Kid aus Compton L.A. müßte Venus Williams über ihre kommende Gegnerin eigentlich Dinge sagen wie: „Ich werde Schneewittchen in den Arsch treten“ oder ähnliches, statt dessen setzt sie ihr strahlendstes Lächeln auf und lobt das „vielseitige Tennis“ der Russin. Auch sonst zeigt sie sich von ihrer charmantesten Seite und brilliert in den Pressekonferenzen mit witzigen Antworten. Das Herz der Engländer wird sie dennoch nicht gewinnen können. Das gehört einzig und allein Anna Kournikova. Matti