Britische Elegien

■  Abgegossene Selbstbildnisse, eisgekühlte Orchideen und andere Erscheinungen des Verfalls: Marc Quinn im Kunstverein Hannover

Dichter wissen alles immer früher. 1922 merkte Rainer Maria Rilke, wie der Wandel der Dinge an Tempo zunahm. Gegen den Wandel als solchen hatte der Dichter nichts einzuwenden, hatte er doch der „ewigen Strömung“, in der Schöpfung und Zerstörung zusammenfallen, seine „Duineser Elegien“ gewidmet. Den Zerfall der Bilder, der mit der Beschleunigung der Lebensprozesse einherging, wollte er aber nicht klaglos hinnehmen. Rilke hielt der Verflüchtigung die dichtereigene Waffe entgegen: Das „Ein Mal“ der Poesie sollte die Formen über ihre Hinfälligkeit hinwegretten.

1999 hilft keine Dichtung mehr. Die Bilder, die heilen und schönen, haben sich davongemacht. Vom Bild bleibt nur eine Spur: der Körperabdruck eines Künstlers im Inneren einer Bananenschale. Übergroß, aus Aluminium, steht sie auf dem Treppenabsatz des Kunstvereins Hannover, für jeden Eintretenden sichtbar: „landed“, gelandet, sagt der Titel. Hingestellt hat sie der Londoner Marc Quinn, Urheber des Werkes und des entwichenen Körpers.

Der 1964 in London geborene Quinn gehört zu der alten Garde „junger“ britischer Künstler, die für gewöhnlich in der mittlerweile tonangebenden Galerie von Jay Jopling ausstellen, sich laut Eingeweihter einer unglaublichen „Brutalität des Faktischen“ rühmen, und seit einigen Jahren im Kunstbetrieb Staub aufwirbeln. Ein Selbstbildnis Quinns, das er aus eigenem gefrorenen Blut angefertigt hat, war letzten Herbst in Berlin im Hamburger Bahnhof bei „Sensation“ zu sehen. Im Reizüberschuß der dort zusammengeballten Young British Art ging der Sinn des Blutkopfes jedoch unter. Jetzt zeigt der Kunstverein Hannover mit zwölf Arbeiten die erste europäische Werkschau des Briten. Einzeln in den lichten, blankgeweißten Räumen postiert, kommen Quinns Werke endlich zu Platz und Ausdruck.

Gemeint ist eine Kosmogonie, die Quinn am menschlichen Körper, gegebenenfalls am eigenen Körper, festmacht. Er spricht von Inkarnation – Fleischwerdung der Materie. Denn der Körper ist nichts als Materie, die, ständig im Wandel, verfällt und zerfällt, um neue Formen zu bilden. Die Kunst markiert die Stadien der Metamorphose.

Kurz vor dem Endstadium befindet sich nun ein Bleiabguß, auf den Boden geklatscht und lasch wie eine unaufgeblasene Plastikpuppe, schrumplig mit bröselnden Rändern. So kehrt der Leib zur Welt zurück, die Kreatur zum All. „Jede Skulptur ist wie eine Momentaufnahme einer fortlaufenden Morphologie“, hat Quinn seine Liebe zur Transformation einmal erklärt, „wie Spuren von etwas, was im Vergehen begriffen ist. Dieses Etwas ist der gegenwärtige Augenblick ... Jetzt.“

Das „Ein Mal“ mit dem „Now“ getauscht, ist Quinn offenbar bei Rilke angelangt. Nur die Bilder kann er nicht mehr retten. Am Anfang des Parcours ist das Abbild des Künstlers aus der Hülle verschwunden, am Ende begegnet der Besucher seinem eigenen in einer Spiegelwand als Trugbild. Egal, wie man sich davor stellt, in irgendeiner Ecke des Spiegels sieht man immer nur hohl, schlaff und runzelig Quinns Polyurethan-Abgüsse von der Decke des gegenüberliegenden Innenhofs herabhängen. Man erblickt die eigene Visage und deren Todesfratze zugleich: „No visible means of escape.“

Da wir aber gerne an dem ungebrochenen Bild des Körpers festhalten, nimmt uns der Brite britisch humorvoll auf den Arm. Im zentralen Raum des Kunstvereins umschwärmt das fahle Licht, das durch die Milchglasdecke hereinfällt, zwei klassisch anmutende Marmorstatuen. Schneeweiß und fein poliert ist der Marmor, würdevoll die Pose, den Figuren mangelt es jedoch an Gliedmaßen. Im nächsten Raum wartet im tiefgekühlten Schaukasten, mit Silikon einbalsamiert, das Bild per excellence: die Blume – genauer gesagt eine Orchidee –, an der die labile Grenzlinie zwischen Flora und Fauna sichtbar werden soll. Als Zeichen fließender Grenzverhältnisse wächst sie aus einer Vase heraus, die aus gefrorenem Künstlerblut modelliert wurde. Wenn man das Tiefkühlgerät abstellt, welkt die schöne Orchidee aber schnell dahin.

Es geht auch galliger. Ein polyurethantriefendes Ensemble von Köpfen, die allesamt auf den Prototyp in der Mitte schauen, entlarvt selbst die Todesstunde als Reflex der Vorstellung, die man in den Augen anderer erblickt. Und als Grimasse sieht Thanatos noch grausiger aus: ein ausgedörrter schwarzer Schädel, der aus den Augenhöhlen grellgrünen Brei herausspuckt.

Quinn geizt nicht mit Zitaten. Unter seinen Metaphern des Lebens- und Todeskreislaufs fehlen weder „The origin of the world“ als überdimensionale Fotoaufnahme noch die Liebenden von Rodin. Marmorweiß, aber aus Eis halten sie sich im gekühlten Glaskasten fest umschlungen. Bei aller Schönheit, die für sie Ewigkeit verspricht, sind sie dazu verdammt, sich in Dampf und Wassermoleküle aufzulösen. Die schwirren bereits im Raum herum. „Love is all around you“, sagt Quinn dazu. Und der Dichter: „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen, ach, wir atmen uns aus und dahin ...“ Aureliana Sorrento

Marc Quinn, bis 22. 8., Kunstverein Hannover. Ein Katalog mit Texten von Darian Leader, engl./dt., erscheint am 14. Juli.