Tote Fische für Abonnenten

Theater ist mehr als dreidimensionale Literatur: In seinem Buch „Postdramatisches Theater“ schenkt Hans-Thies Lehmann dem Publikum im letzten Augenblick eine Sprache für das, was es gerade noch sieht  ■   Von Petra Kohse

Über Theater spricht man nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Denn auch wenn in den klassischen Feuilletons an einem Tag mitunter ein halbes Dutzend Theaterkritiken gelesen werden wollen, fehlen doch immer wieder die Worte. Natürlich werden Handlungen nacherzählt, Szenen beschrieben und Schauspieler bewertet. Sobald die Dreieinigkeit von dramatischer Vorlage, szenischer Umsetzung und darstellerischer Ausführung aber gestört ist – weil es vielleicht keine Vorlage gibt, das, was zu sehen ist, nichts mit ihr zu tun hat oder die Schauspieler sich weigern, Rollen zu verkörpern –, wird es schwierig. Castorf-Theater! Marthaler-Theater! Oder, seltener: Schleef-Theater!, heißt es dann personalisierend. Oder es wird aufgezählt, was in dieser Inszenierung alles nicht geschieht, wenn der oder die Schreibende nicht ohnehin, feuilletonistisch beherzt, gleich das eigene Ich in die Waagschale wirft, um das Gezeigte rein lebensweltlich zu verorten.

All das ist natürlich legitim, und so erfreulich wie erschütternd. Denn schließlich (erfreulich!) kommunizieren die sprachlichen Leerstellen zumindest, daß das Theater Wege gefunden hat, inmitten einer stubenrein theatralisierten Öffentlichkeit überhaupt noch wahrgenommen zu werden – und sei es als Wahrnehmungsloch. Gleichzeitig bleibt einem (erschütternd!) das Eingeständnis nicht erspart, daß in der darstellenden Kunst seit mindestens drei Jahrzehnten Entwicklungen mehrspurig vom Literaturtheater wegführen, diese im öffentlichen Sprechen aber beharrlich ausgebremst werden. „Hat dir das Stück gefallen?“, pflegen Theaterbesucher zu fragen, und auch in Fachkreisen wird Theater im Grunde vieler Herzen noch immer für die Übersetzung eines Textes ins Dreidimensionale gehalten. Diskussionen bei den Autorentheatertagen in Hannover oder Mülheim lassen daran keinen Zweifel.

Dabei hat Geschichtenerzählen auch im Stadt- und Staatstheater längst nicht mehr zwingend mit einer buchförmigen Fabel zu tun, ist Text oft nur ein Mittel unter vielen, stellen Schauspieler nicht selten vor allem sich selbst dar und schütten Theatermacher Echtzeit und Trivialität ins Parkett, statt das Erhabene vornehm winken zu lassen – schließlich befinden wir uns längst im Zeitalter des „postdramatischen Theaters“, wie der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann die Sache in seiner soeben erschienenen Studie über die Ausprägungen zeitgenössischer Bühnenwirklichkeit faßt.

Körpertraining und Rauchpausen

Postdramatisches Theater ist Theater, das keinen Text oder eine übergeordnete Idee repräsentiert. Statt dessen bietet es im Augenblick der Aufführung nur seine eigene Wirklichkeit feil, wenn auch – anders als die Performance – jeden Abend aufs Neue. Postdramatisches Theater ist Theater, für das „der Zerfall von weltanschaulichen Gewißheiten kein metaphysisches Angst-Problem mehr darstellt, sondern eine vorauszusetzende kulturelle Gewißheit“. Theater, das auch ohne Text auskommen kann. Das Zustände zeigt statt einer Handlung. Das das zeremonielle Moment für sich neu entdeckt und feiert. Das mit extremen Verlangsamungen arbeitet oder einer immensen Beschleunigung. Das uneindeutig ist, simultane Vorgänge zeigt, soziale Probleme als individuelle kenntlicht macht und immer wieder die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt.

Schauspieler, die plötzlich Rauchpause machen und das Publikum beobachten wie bei Jan Fabre aus Belgien. Die zu „gestischen Skulpturen“ erstarrten Darsteller bei dem Amerikaner Robert Wilson. Die unverhohlene körperliche Anstrengung bei Einar Schleef. Die Überdimensionierung des Spielraums bei Klaus Michael Grüber. Der Einsatz von Video bei der New Yorker Wooster Group. Die Anspielungen auf Filmdialoge bei John Jesurun (ebenfalls New York). Die WG-Stimmung bei der holländischen Gruppe Doord Pard oder der deutsch-englischen Gruppe Gob Squad. Die gemeinsame Raumnutzung von Spielern und Publikum bei den Katalanen La Fura dels Baus. Die Inszenierung behinderter Körper bei der italienischen Societas Raffaello Sanzio.

Auf fast fünfhundert Seiten beschreibt Hans-Thies Lehmann etliche zeitgenössische Ästhetiken, analysiert sie und benennt ihre methodische Spezifik: szenisches Gedicht, szenischer Essay, kinematographisches Theater oder Hypernaturalismus. Allein was die Verwendung neuer Medien im Theater anbelangt, unterscheidet er einfache „Nutzung“, wenn das Gesicht eines auf der Bühne anwesenden Schauspielers auf eine Leinwand übertragen wird, „konstitutiven Einsatz“, wenn Schauspieler und Videobild kommunizieren, „theatralisierten Einsatz“, wenn die Videobilder manipuliert werden und „Inspiration durch neue Medien“, etwa bei dem Autor und Regisseur René Pollesch, dessen Dialogführung mit der Fernsehseriensprache spielt.

Dies alles geht natürlich nicht ohne gelegentliche wissenschaftliche Verschwiemelung ab, ohne wiederholtes Andocken an fachspezifische Debatten und Abgrenzungen, deren Feinheit man am Ende des Satzes schon wieder vergessen hat. Dennoch gibt einem dieses Buch eine solche Fülle von Begriffen in die Hand, daß man – zumal im Goethe-Jahr! – nicht daran zweifelt, daß am Anfang wirklich das Wort war und erst dann das Erkennen. Ob tote Fische oder Mikrophone, verweigertes Sprechen oder Geräuschkulissen – das Zeichenfeld Theater kann jetzt abonnentenfähig werden.

Wobei sich Hans-Thies Lehmann mit Ausnahme von Einar Schleef nun ausgerechnet den Staatskünstlern unter den postdramatisch arbeitenden Theatermachern am wenigsten widmet. Sein Feld sind europäische und nordamerikanische Avantgarden der letzten dreißig Jahre, die vorwiegend im freien Bereich zu finden sind. Armin Petras hingegen fehlt ganz, Frank Castorf und Christoph Schlingensief kommen nur als Verweise vor in diesem Buch, das gleichwohl all jenen zugedacht ist, die Theater als Augenblick verstehen, den Spieler und Publikum gemeinsam verleben.

Aber mehr als ein Handbuch, ist „Postdramatisches Theater“ eben ein Schlüssel zu dem, was sich letztlich nur jedem einzelnen erschließt, eine Folie, auf der die Teile des auseinandergefallenen Werkganzen im Theater sortiert und betrachtet werden können. Sogar der wissenschaftliche Gleichmut, mit dem Lehmann sein phänomenologisches Interesse auf die qualitativ äußerst unterschiedlichen Arbeiten richtet, entläßt einen irgendwie gestärkt. Schließlich findet im postdramatischen Theater der Dialog zwischen Bühne und Publikum statt, und die Rolle des Zuschauers ist die des Sinnstifters kraft persönlicher Biographie.

Kaum benannt, schon wieder Geschichte?

Da greift Lehmann ebensowenig vor wie er Mangel an Handwerk als Grund ansieht, einzelne Theatermacher von der Party auszuschließen. Auch versteht er die Analyse nicht als absolut. Im Gegenteil rechnet er damit, daß ihm sein Untersuchungsgegenstand bereits in die Historie entkommen ist: „Vielleicht wird postdramatisches Theater nur ein Moment gewesen sein, in dem die Erkundung des Jenseits der Repräsentation auf allen Ebenen erfolgen konnte. Vielleicht eröffnet das postdramatische ein neues Theater, in dem sich dramatische Figurationen, nachdem Drama und Theater so weit auseinandertrieben, wieder zusammenfinden.“

Tatsächlich haben nicht wenige der behandelten Künstler ihre vitalste Zeit schon hinter sich. Robert Wilson etwa konnte in der Klassizität erstarren, ohne daß seine Zeichensysteme anders denn als „Bildertheater“ rezipiert worden wären. Und das Netzwerk für Künstler wie die Wooster Group, Jan Lauwers oder Jan Fabre bricht in Deutschland gerade zusammen. Das Frankfurter TAT existiert nicht mehr in der früheren Form, und auch das Berliner Hebbel Theater wird sich umorientieren. Als Programm-Macherinnen des eben zu Ende gegangenen Festivals „Theater der Welt“ in Berlin haben die Hebbel-Theater-Leiterinnen Nele Hertling und Maria Magdalena Schwaegermann auf ihren Sondierungsreisen international ein stärker textorientiertes Theater vorgefunden, das ihnen für die Zukunft paradigmatisch erscheint.

Auch hierzulande ist der Trend eindeutig: Jüngere Theatermacher wie Pollesch, Falk Richter oder David Gieselmann schreiben sich ihre Texte selbst oder bestehen, anders gesagt, als Autoren darauf, selbst zu inszenieren. Gleichzeitig neigen größere Theater in Hamburg, Hannover, München, Wien und bald auch Berlin zu Hausautoren, Stückaufträgen oder gleich der Beschäftigung von Dramatikern als Dramaturgen.

In dem Augenblick, da – mit über 100jährigem Abstand zur Kunstgeschichte – auch im Theater die Darstellung von Trivialität nicht mehr als Sakrileg betrachtet werden muß und – abermals der Bildenden Kunst nachklappend – der Konzeptgedanke gesellschaftsfähig wird, könnte es das also schon wieder gewesen sein. Mitten am Tag könnte jetzt von einer neuen Erzählbarkeit der Welt geträumt werden und vom Theater als einem Damm gegen die Zeichenflut. Was Parallelentwicklungen nicht ausschließt und im großen und ganzen schon okay geht. Um die jetzt in den Stand der Sprache versetzten, postdramatisch sozialisierten Zuschauer zu überzeugen, wird ein Neokonservatismus im Theater zumindest gute Argumente brauchen. Hans-Thies Lehmann: „Postdramatisches Theater“, Verlag der Autoren, 512 S., 48 Mark