Der Westen bleibt sitzen

■  In den östlichen Bezirken liegt die Quote der Sitzenbleiber weit niedriger als in den westlichen. Dort gibt es bessere Noten, aber auch eine stärkere Leistungsorientierung

Wenn an den Schulen morgen die Zeugnisse verteilt werden, erweist sich Berlin einmal mehr als geteilte Stadt. Denn mit dem Prädikat „nicht versetzt“ müssen im Westen dreimal mehr SchülerInnen rechnen als im Osten. Am deutlichsten ist der Unterschied bei den GymnasiastInnen. In den westlichen Bezirken mußten im vergangenen Jahr 8,2 Prozent von ihnen die Klasse wiederholen, während es in den östlichen Bezirken nur 2,7 Prozent waren. An diesem krassen Unterschied hat sich seit der Vereinigung der beiden Schulsysteme vor fast einem Jahrzehnt kaum etwas geändert.

Die Schulverwaltung führt das Phänomen auf eine Reihe von Ursachen zurück. Einer der Gründe, glaubt Pressesprecherin Rita Hermanns, sei das unterschiedliche Notensystem. Während es in der Bundesrepublik von Eins bis Sechs reicht, konnten die LehrerInnen in der DDR im schlechtesten Fall eine Fünf geben. Deshalb würden im Osten noch immer bessere Noten erteilt.

Außerdem, so Hermanns, gebe es grundverschiedene Maßstäbe dafür, was eine gute Schule oder ein guter Lehrer sei. Fallen viele SchülerInnen bei Prüfungen durch, gelte das im Westen als Beleg für hohe Anforderungen – im Osten dagegen schlicht als Versagen der Lehrer. Zudem werde das Sitzenbleiben von Lehrern und Eltern im Westen vielfach als „pädagogische Maßnahme“ auch zur Verbesserung der Abschlußnoten verstanden.

Doch es gibt auch einen Gesichtspunkt, mit dem sich Westberliner Pädagogen weniger gern konfrontiert sehen. Die Schulen der neuen Bundesländer gelten offenbar nicht nur als leistungsorientierter, sondern sie sind es auch. Einerseits seien die Schüler vielfach disziplinierter und nähmen die Schule wichtiger, meint die Sprecherin der Schulverwaltung. Aber auch in den alten DDR-Lehrplänen seien die Anforderungen höher gewesen. Während die Kinder damals schon nach dem ersten Schuljahr fließend lesen und schreiben sollten, wird das in den Gesamtberliner Lehrplänen erst nach dem zweiten Schuljahr verlangt. „Das System war mehr durch Leistungsdenken geprägt“, sagt Hermanns.

Auch auf den Schulbuchmarkt wirkt sich diese Tendenz aus. Dort machen die Verlage aus dem Osten nach anfänglichen Einbrüchen längst wieder gute Geschäfte. Der Grund: Sie kultivieren einen stärker fachwissenschaftlichen Ansatz, der sich von der ausgeprägten Alltagsorientierung der West-Pädagogik unterscheidet. Der Unterricht dürfe ruhig Spaß machen, heißt es beim Verlag Volk und Wissen, „aber der Schüler soll was lernen“. Ralph Bollmann