Die Dame von Zimmer 134

Arbeitslose, Kunden genannt, beschweren sich bei ihr. Kollegen, Arbeitsvermittler genannt, beschweren sich über sie. Sozialpädagogin Ute Böhme ist Deutschlands einzige Ombudsfrau in einem Arbeitsamt  ■   Aus Heilbronn Jens Rübsam

In Zimmer 134 des Heilbronner Arbeitsamtes sitzt Ute Böhme, und wartet gespannt auf Publikum. Auf Kunden, die frustriert und wütend sind und die sich beschweren wollen: Über die Kollegin Groß von Zimmer 109 vielleicht, über die Kollegin Hauck von Zimmer 107 womöglich, über den Kollegen Koller von Zimmer 329 etwa oder über irgend einen der 400 Mitarbeiter der Behörde. „50 Arbeitslose“, freut sich Ombudsfrau Böhme und schlägt vorsichtshalber noch einmal in den Akten nach, um auch genau zu sein, „50 Menschen haben mich seit Mitte April schon um Rat gefragt.“ Wenn die Kollegen Groß, Hauck und Koller von der Frau aus Zimmer 134 sprechen, klingt es, als redeten sie vom Leibhaftigen. „Frau Böhme ist ein Fremdkörper hier“, zetert Frau Groß. „Es stört mich, daß Frau Böhme sich fachlich nicht auskennt“, schimpft Frau Hauck. „Wenn man es genau nimmt, gehört Frau Böhme nicht ins Haus“, grollt Herr Koller. Vielleicht ist deswegen letztens vergessen worden, die Ombudsfrau Ute Böhme, 34, zum Betriebsausflug einzuladen.

Es ist neun Uhr morgens, und Frau Böhme legt zwei Dosen Kekse auf den kleinen Tisch, den sie vor ihrem Arbeitszimmer aufgestellt hat. Mag sein, daß sie diesen Ort ein wenig schminken will. Mag sein, daß sie denjenigen, die zu Broschüren wie „Arbeitslosengruppen in Deutschland“ und „Leitfaden für Arbeitslose“ greifen müssen, zeigen will: Es ist auch hier Platz für eine kleine Aufmerksamkeit – auch auf einer Behörde, deren Angestellte über viel zuviel Arbeit, über 800 Kunden pro Vermittler, über Gesprächszeiten von nicht mehr als zehn Minuten klagen und darüber, daß sie nur Schicksale verwalten könnten, Ende Juni waren es genau 14.576 im Arbeitsamtsbereich Heilbronn.

Wer hierher in Zimmer 134 zu Ute Böhme, Deutschlands erster Ombudsfrau eines Arbeitsamtes, kommt, war schon in Zimmern wie in denen der Arbeitsvermittler Groß, Hauck oder Koller, in Räumen, die irgendwie nach Endstation riechen und manchmal auch Endstation sind. Dann etwa, wenn der Arbeitsvermittler Hermann Koller, 57, hinter einen Namen die Zahl 20 in den Computer tippen muß, 20 bedeutet „nicht mehr vermittelbar“. „Was“, seufzt Koller, Gebirgsjäger a.D., „soll ich auch machen mit einem Schlosser, der 49 Jahre alt ist und nicht mehr als fünf Kilo heben darf?“ Bis zur Rente wird der Schlosser eine Notiz auf der Festplatte bleiben.

Da geschieht es schon hin und wieder, daß Frauen und Männer Haltung und Fassung verlieren. Sie schimpfen auf die Sachbearbeiter, von denen sie sich mies oder von oben herab behandelt fühlen. Klagen über Entscheidungen der Behördianer, die eine Sperrzeit verhängt oder eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angeordnet haben, deren Sinn sie nicht nachvollziehen können. Oder bemängeln, daß Anträge nicht mehr aufgefunden werden und daß das Geld zu spät überwiesen wird. Anfang Juni erst verdonnerte das Lübecker Landgericht das örtliche Arbeitsamt zu einer Zahlung von 5.000 Mark an einen Schwerbeschädigten. Grund: verschleppte Anträge und unzureichende Auskünfte.

Als die „Stiftung Warentest“ unlängst elf deutsche Arbeitsämter testete, „hagelte es schlechte Noten fürs Organisatorische“. Von „arroganten Männern“ hinter Schreibtischen berichteten Arbeitslose und von „unmotivierten Mitarbeitern“. Von dem Gefühl, nur „lästige Bittsteller“ zu sein und daß es „Sachbearbeiter stört, wenn man nachfragt“. Von „keiner ist zuständig“ war die Rede und davon, daß „konkrete Ratschläge oder Hilfen, die über das gesetzlich Vorgeschriebene hinausgehen“ nicht gegeben werden. „Guter Rat ist selten“, resümierte die Stiftung Warentest – allerdings: Mit Bestnoten wurde das Arbeitsamt Heilbronn bedacht. Was also soll gerade hier Frau Böhme?

Im DGB-Haus reicht der Gewerkschaftsfunktionär Michael Weiß, 37, erst einmal einen Handzettel über den Tisch. „Was heißt eigentlich Ombudsfrau?“ steht darauf und darunter ist zu lesen: „Laut Fremdwörterbuch ist die/der Ombudsfrau/mann eine Person, die die Rechte des Bürgers gegenüber der Behörde vertritt.“ Weiß hat genaustens recherchiert, „schließlich ist Ombudsfrau oder -mann kein schwäbischer Begriff“ und hierzulande so selten anzutreffen wie Wölfe in den Wäldern. Die medizinische Fakultät der Berliner Humboldt-Universität hat einen Ombudsmann, das Land Rheinland-Pfalz hat einen und die Berliner Zeitung, die Deutsche Bahn hatte nach Eschede einen, und die Ärztekammer Schleswig-Holstein hat drei Patienten-Ombudsleute. Als die Grünen im Herbst vergangenen Jahres in die Regierung einzogen, forderten sie einen Bürgerbeauftragten, vom Parlament bestellt und im Einsatz gegen Behördenwillkür – doch das Vorhaben verlief sich im Sande. Was in Schweden seit 1810 Normalität ist und in der Schweiz Erfolg hat, im Konfliktfall Schlichten ohne Gericht, ist den prozeßfreudigen Deutschen schwer vermittelbar. Die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit meldete für 1998: 524.100 Widersprüche gegen Entscheidungen der Dienststellen vor Ort. Gegen das Heilbronner Arbeitsamt werden jährlich rund 2.000 Verfahren angestrengt. Mündliche Beschwerden freilich gibt es weitaus mehr.

Die wurden auch dem Heilbronner DGB-Chef Michael Weiß in gewerkschaftlichen Arbeitslosenkreisen zugetragen. Mit derselben Leidenschaft, mit der er in schwarzer Lederkluft sein Motorrad durch die Lande peitscht, schuf er das bundesweit einmalige Projekt: Ombudsfrau im Arbeitsamt, angestellt beim DGB und bezahlt aus dem Topf der Arbeitsförderung. Auf seinem Faltzettel notierte er: „Wenn es emotional gekracht hat, Sie das Gefühl haben, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitsvermittler, Berufsberater belastet und der Dialog gestört ist, wenn Sie sich in der Sache nicht einigen können, dann sprechen Sie mit der Ombudsfrau.“ Emotionalen Krach gibt es immer wieder.

Das Arbeitsamt Heilbronn ist ein schmuckloser Bau, weit genug entfernt vom Leben in der Innenstadt, wo die Verwaltung der Hoffenden und Hoffnungslosen nur unangenehm auffallen könnte. Umgeben ist das Amt von einem Autohaus für die, die nicht Arbeitslosengeld oder -hilfe beantragen müssen (Neuwagen von Mercedes Benz: 47.890 Mark), und einem, in dem Gebrauchtwagen stehen. Vor der Tür schaukeln satte Bäume im Wind, und ein Brunnen springt nach Herzenslust, und den Neckar erreicht man von hier, wenn man den Weg durch die Neubaublocks nimmt. Drinnen in dem von der Bundesanstalt für Arbeit auserkorenen Modellarbeitsamt 2000 (mehr Kundennähe und mehr Service) ist es so blank und ordentlich und so still, als störe jeder Kunde, wie Arbeitslose neuerdings genannt werden, allein durch Betreten des Hauses. Ute Böhme, Sozialpädagogin mit Diplom und Ombudsfrau, findet Begriffe wie Kunde oder Publikum „kritisch“. „Die Leute müssen hierher, sie haben nicht die Wahl, sie können sich nichts kaufen.“

Es ist kurz vor Mittag. Ute Böhme sitzt in ihrem Zimmer, erste Etage, Flurende, und wartet auf Arbeitslose, die sich beschweren wollen oder Rat brauchen. Bislang war niemand da an diesem Morgen, dem sie Kekse und auch eine Tasse Kaffee hätte anbieten können. Wüßten dies die Kollegen aus den Zimmern 109 und 107 und 329, sie würden sich bestätigt fühlen, daß „diese Frau nichts nützt“. Vielleicht ist schwer vorstellbar, daß eine Ombudsfrau zu tun hat.

Ute Böhme blättert in Papieren, hin und her, alle Beratungsgespräche sind sorgfältigt notiert. Von welchen Fällen soll sie erzählen? Welche sind geeignet, um zu demonstrieren, daß sie doch nütze ist? Es findet sich folgender Fall: Ein Arbeitsvermittler schickte eine Frau, die beantragt hatte, aus gesundheitlichen Gründen zeitlich begrenzt zu arbeiten, zur ärztlichen Untersuchung. Der Amtsarzt forderte: Ausziehen. Sie weigerte sich. Ihre Begründung: sich nicht entkleiden zu wollen vor einem Mann. Wegen Verweigerung der Mitwirkepflicht drohte die Behörde mit einer Sperre des Arbeitslosengeldes. Die Frau wendete sich an die Ombudsfrau und berichtete von Gewalterfahrungen und sexuellem Mißbrauch. Und Ute Böhme vermittelte zwischen Vermittler und Betroffener. Ergebnis: Nun wird eine Ärztin die Untersuchung vornehmen. Es findet sich auch folgender Fall: Eine Frau fühlte sich von einer Arbeitsvermittlerin schlecht behandelt, unter Druck gesetzt und in eine Orientierungsmaßnahme gedrängt. Sie bat die Ombudsfrau um Hilfe. Die vermittelte. Nun konnte sich die Frau selbständig einen Praktikumsplatz suchen. Es finden sich weitere Fälle: Ein Reha-Antragsteller wartete vier Monate auf einen Beratungstermin beim Arbeitsamt. Ständig wurde er vertröstet. Die Ombudsfrau telefonierte mit dem Zuständigen. Fünf Tage später saß der Mann bei ihm am Schreibtisch. Oder: Eine Ausländerin bekam keinen Platz im Sprachkurs. Sie informierte die Ombudsfrau. Jetzt kann die Frau deutsch lernen. „Wenn ich dabei bin“, sagt Ute Böhme, „bemühen sich alle Beteiligten um eine Lösung.“

Jedesmal, wenn die Ombudsfrau Ute Böhme ihr Zimmer 134 verläßt, durch die Flure geht, bei Arbeitsvermittlern an die Tür klopft und hereintritt, setzen die Sachbearbeiter ein Hilfe-die-schon-wieder-Gesicht auf: Habe ich was falsch gemacht? Soll ich kontrolliert werden? Hat sich jemand beschwert? In der Führungsetage des Heilbronner Arbeitsamtes zeigt man Verständnis für die Skepsis der Kollegen: „Die Mitarbeiter gehen davon aus, daß sie ihre Arbeit nach Gesetz machen. Daß sie dann skeptisch sind, wenn Frau Böhme reinkommt, das ist klar“, sagt eine Kundenbereichsleiterin, die ansonsten nur lobende Worte für die Ombudsfrau findet, Tenor: „Wir wollen den Kunden die Angst vor der Behörde nehmen.“

Es ist früher Nachmittag. Noch immer war keiner bei Ute Böhme, der eine Beschwerde hatte und keiner, der einen Rat brauchte. An solchen Tagen setzt sie sich manchmal neben die Eingangstür des Arbeitsamtes und spricht die Arbeitslosen an: Waren Sie zufrieden mit dem Beratungsgespräch? Kann ich irgendwie helfen? „Abfangen der Kunden“ und „Fremdkörper“ schäumen Arbeitsvermittler wie Marion Groß, 27, eine Etage höher, seit zwei Jahren als Vermittlerin, „nicht als Sozialarbeiterin“, tätig. „Einmal hat sie bei mir gesessen und festgestellt: ,Sie kann das ja‘ “, spöttelt Frau Groß, schon elf Jahre im Haus, quasi von Kindesbeinen an, und mit Studium ausgestattet, ein Fach unter anderem: Sozialpsychologie. Im Zimmer nebenan genießt Vermittlerin Sandra Hauck, 23, Kaffee und Snickers und ärgert sich vor allem darüber, daß die Ombudsfrau Sozialpädagogin ist und nicht vom Fach. Und Hermann Koller im dritten Stock, Vermittler seit 25 Jahren, teilt erst einmal mit, daß er bald in Rente geht und sagt dann: „Früher gab es richtig bösartige Leute. Leute, die ;du Nazi‘ geschrien haben.“ Heute sei es ruhig auf dem Amt. Heute aber gebe es eine Ombudsfrau. Die neue Zeit ... Dienstleistungsangebot ... Mehr Service... „Ha ja“.

Halb fünf. Feierabend. Ute Böhme schließt die Kekse in den Schrank. Keiner fehlt. „Ein Telefonat ist noch gekommen“, sagt die Ombudsfrau.