Das gute Leben auf dem Minenfeld

Der in der Sowjetunion verbotene Schriftsteller Anatoli Asolski schreibt Bücher über das Heldentum des sowjetischen Alltagslebens. In Russland wird er als Jahrhundertentdeckung gefeiert. Heute erscheint endlich sein erster Roman auf Deutsch  ■   Von Wladimir Kaminer

1968 bot Anatoli Asolski, ein junger Marineoffizier auf dem Kreuzer „Sewastopol“, seinen ersten Roman der Zeitschrift Nowi Mir an, die damals als die progressivste galt. In dem kurzen Text ging es um die rauen Sitten bei der sowjetischen Flotte. Der Redakteur sprang aufgeregt aus dem Sessel: „Wenn das alles wahr ist, was hier steht, warum kommen Sie dann damit zu uns? Das Manuskript gehört in die Hände des Oberstaatsanwalts. – Missstände auf geheimen Objekten!“ „Das sind keine Missstände, ich beschreibe den Matrosenalltag“, erwiderte Asolski – und zog sich zurück.

Zwanzig Jahre später bot er den Roman erneut an. In der Morgenröte der Perestroika-Zeit wurde sein Text in der Nowi Mir veröffentlicht: als hübsche Einführung in die grauenhafte kommunistische Vergangenheit. Danach kam von Asolski wieder zehn Jahre nichts. Aber zwischen 1995 und 1997 feuerte der Schriftsteller eine wahre Salve von Werken auf die russische Leserschaft ab: fünf Romane und zwei Bände mit Erzählungen. Ein Teil davon wurde sogleich in mehrere Sprachen übersetzt. Auf Deutsch ist jetzt sein Roman „Die Zelle“ erschienen. 1997 bekam der jetzt 70-jährige Asolski dafür den russischen Booker-Preis und wurde von der Kritik als „die Entdeckung des Jahrhunderts“ gefeiert.

„Die Zelle“, wie auch die meisten anderen Werke von Asolski, befasst sich mit den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren der Sowjetunion. Er begeistert den Leser für eine Zeit, da George Orwell, vom Sozialismus maßlos enttäuscht, seine erbarmungslose Antiutopie verfasste. Orwell, der ehemalige Kommunist, meinte, dass das Leben in einer der sowjetischen auch nur ähnlichen Gesellschaft unmöglich sei. Asolski, Antikommunist im Geiste, behauptet das Gegenteil: Man kann unter jeder Diktatur leben, seine Ehre und seine Würde behalten – so wie man auch durch ein Minenfeld gehen kann, vorsichtig und langsam. Jeder Tag eines solchen Lebens ist eine Errungenschaft. Man braucht eine erhöhte Wachsamkeit, denn hinter jedem Busch und jedem Erdhäufchen kann es zu Ende sein. Asolski beschreibt dieses Leben als Tatsache, ohne es zu glorifizieren oder zu verdammen. Orwell, wie vor ihm auch Kafka, zeigte, dass der Leviathan unbesiegbar ist – jeden wird er zermalmen.

Doch Asolskis Held Iwan kommt unverletzt aus allen Situationen heraus. Wird er vom Leviathan verschluckt, kriecht er durch das Arschloch wieder in die Freiheit, bügelt seine Hemden auf und geht in den Club zum Tanzen, bis neue Schwierigkeiten auftauchen und alles wieder von vorn beginnt. Seine Umwelt will dieser Iwan nicht ändern, er ist bereit, darin zu leben und alle Spielregeln zu akzeptieren. Ein solches Leben erfordert, mächtig wie „Batman“ und unauffällig wie der „Invisible Man“ zu sein.

Der Held aus dem Roman „Die Zelle“, Iwan Barinow – „ein frecher junger Mann mit breiten Schultern, in dessen blaue Augen nur schöne Frauen schauen dürfen“ – ist einem Herakles ähnlich. Ein Mensch mit vielen Gesichtern – Biochemiker, Mathematiker, Anführer einer Kundschafterbrigade bei den Partisanen ... Ein Mann, der mit mehreren Pässen unter verschiedenen Namen lebt, ständig unterwegs ist und überall – bei den Kriminellen ebenso wie bei der Polizei – hoch angesehen ist. Und so wie Herakles den Iphikles hat auch Iwan einen Bruder, den er ständig beschützen muss: Klim.

Iwans Lebenskraft ist erstaunlich, er ist geradezu unsinkbar. Mehrmals ist er nahe dran zu sterben, doch jedes Mal ersteht er wie Phönix aus der Asche auf. Auf die Frage nach seinem Geburtstag antwortet er: „Zwanzigstes Jahrhundert“. Egal was kommt, Iwan kriegt alles in den Griff, lautet Asolskis Botschaft. Doch manchmal übertreibt der Autor auch: Dass der Held z. B. mit „drei Kugeln in der Brust und einer im Nacken“ weitermacht, sorgt nicht gerade für die Glaubwürdigkeit der Geschichte. Beim Schreiben bedient sich der Schriftsteller unendlich langer Sätze. Sie sind mit so vielen Handlungssträngen, Einzelheiten und Wünschen gefüllt, dass sie manchmal den Leser auf einen LSD-ähnlichen Trip schicken. Einer sei hier zitiert:

„Von der siebten, achten Klasse an hatten die Freundinnen begonnen, sich mit ihren schwellenden und sprießenden Körpern zu befassen, so manchen Tag betrachteten sie sich im Spiegel, zogen sich die Kleidungsstücke genau in der Reihenfolge vom Leib, die der Mann wählen würde, bevor er die großartige Prozedur der Defloration an ihnen vornahm (den nötigen Wortschatz hatten die Mädchen sich bereits zugelegt) – ihr Blick erlangte eine ungewöhnliche, geradezu technisch zu nennende Schärfe, beim Begutachten der seltsam wachsenden Haarwirbel in den noch kein einziges Mal ausrasierten Achselhöhlen gerieten sie außer sich, staunten über die Rundungen an Becken, Taille und Beinen; die Freundinnen betasteten ihre Brustwarzen, rätselten ausgiebig über die alte Schwäche, die ermannende Jünglinge für diese Drüsen hegten, während bei richtigen Männern die Busenlust doch eher zweitrangig schien – worum es denen hauptsächlich zu tun war, wurde mit nicht minderer Sorgfalt untersucht, für diesen Zweck benötigte man einen zweiten Spiegel.“

„Die Zelle“ – eine Mischung aus Dissidenten-Literatur, Fantasy-, Detektiv- und Schelmenroman – zeigt, wie eine Diktatur dem Menschen auch gut tun kann. Sie steigert seine Überlebenskräfte, und er mutiert, wenn er nicht vorzeitig stirbt, zu einem Halbgott, den man nicht töten, nicht in Versuchung führen, nicht beirren und nicht belügen kann. Asolski schreibt Fabeln. Ihre Moral ist: Sei kein Schurke, hilf deinen Angehörigen und Freunden, entwische deine Feinden und du kommst durch. Fast immer, fast überall. Anatoli Asolski: „Die Zelle“. Reclam-Verlag, Leipzig 1999, 251 Seiten, 39,80 DM

Wird Iwan vom Leviathan verschluckt, kriecht er durchs Arschloch heraus und bügelt sein Hemd