Der Wow-Effekt

■  Begehbarer Wirbelsturm: In der südwestenglischen Stadt Bristol entsteht das Wissenschaftsmuseum des kommenden Jahrhunderts

„Da geht's zum Planetarium“, sagt die Pressesprecherin und weist auf eine Maueröffnung, durch die der Wind den kühlen Nieselregen bläst. Von dem kugelförmigen Glasbau ist noch nicht mehr auszumachen als ein Gewirr aus Gerüsten. Enttäuschung macht sich breit, doch Alison Byard trägt es mit britischer Gelassenheit – und sie ist es gewohnt. Mehrmals täglich führt sie Journalisten über die größte Baustelle im Zentrum der südwestenglischen Stadt Bristol, wo ein Vorhaben Gestalt annimmt, das nach dem Willen seiner Planer das bedeutendste Wissenschaftsmuseum des kommenden Jahrhunderts werden soll.

Wenn die futuristisch anmutenden Bauten im Frühjahr 2000 eröffnet werden, sollen eine Million Besucher jährlich neue Einblicke in Natur, Forschung und Technik gewinnen. „Wir sind exakt im Zeitplan“, verkündet Alison Byard, Pressesprecherin des Museumskonsortiums, und fügt stolz hinzu: „Wir werden auch unseren Finanzplan einhalten.“ 270 Millionen Mark, also 97 Millionen englische Pfund, kostet das Vorhaben insgesamt. Neben Finanzspritzen aus dem Stadtsäckel und der Privatwirtschaft erhält das Museum über 41 Millionen Pfund von der Millennium Commission, einem Gremium, das Gelder der Nationalen Lotterie an zukunftsweisende Projekte in ganz Großbritannien vergibt.

Zukunftsweisend ist nicht nur der Name des Unternehmens – Bristol –, sondern auch sein Konzept. Entsprechend modernen Informationstechnologien sollen sich Besucher schon beim Eintritt ins Museum für sogenannte Pfade entscheiden können, die sie auf farblich markierten Wegen durch Teile der Ausstellung führen. Der Pfad „Du bist faszinierend“ beispielsweise führt in die Geheimnisse des menschlichen Gehirns ein; „Du bist neugierig“ setzt sich mit den Ursachen und Wirkungen von Naturphänomenen auseinander. Dabei geht es nicht um trockene Wissensvermittlung. „Die Menschen sind den wissenschaftlichen Zugang zu den Themen leid“, so Byard. „Deshalb setzen wir mit unseren Exponaten auf den Wow-Effekt.“

Wow, also überraschend, unerwartet und beeindruckend ist das, was den Besucher in der weltweit ersten begehbaren Gebärmutter erwartet, die nicht durch bunt bemalte Pappmaché-Follikel zu Belustigung anregt, sondern mit Dunkelheit und Wärme eine tiefsitzende Sehnsucht nach Geborgenheit stillt. Oder im begehbaren Wirbelsturm, in dem man die Stille im Auge des Sturms auszuhalten lernt. Neue Perspektiven eröffnen sich auch in einem Escher-Bildern nachempfundenen Irrgarten oder im zylinderförmigen Kino, in dem 3 D-Naturfilme Zuschauern das Gefühl vermitteln, eine Ameise oder ein Pinguin unter vielen zu sein. Noch stehen die Exponate in der Werkstatt, wenige Meter von der Museumsbaustelle entfernt. In der lichtdurchfluteten Halle wird fleißig gehämmert, geklebt, ausprobiert und geändert. „Wir haben die Chance, alles von Anfang an zu entwickeln und aufzubauen“, sagt Alison Byard. „Das hat bei allen Beteiligten einen richtigen Kreativschub ausgelöst.“ Und der spiegelt sich auch in der Architektur des Museums wider.

Denkmalgeschützte Bausubstanz, wie das erste, ganz aus Beton errichtete Lagerhaus oder ein Bleiwerk aus dem 19. Jahrhundert, wird mit modernen An- und Aufbauten zu einem harmonischen Ensemble aus Alt und Neu vereinigt, das nach anfänglichem Misstrauen auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stößt. Nahezu euphorisch berichten die lokalen Zeitungen über jede neue Entwicklung auf dem Gelände inmitten der Luftfahrt- und Finanzmetropole. Dazu trägt sicherlich auch die Aussicht auf geschätzte 3.000 neue Arbeitsplätze durch den Tourismus bei. Die positive Resonanz ist für das Projekt von besonderer Bedeutung, denn es entsteht auf sensiblem Grund: auf einem 4,5 Hektar großen Gelände im Zentrum der Docks, dem ehemaligen Inlandhafen Bristols, zehn Kilometer flussaufwärts des Avon.

Die Docks legten den Grundstein zu wirtschaftlichem Erfolg durch Schiffbau und Seehandel vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert. Als die zunehmend größer werdenden Schiffe jedoch die engen Mäander des Avon nicht mehr passieren konnten, verfielen die Docks – und mit ihnen die alten Stapelhäuser – inmitten des Stadtzentrums. Erst Ende der 60er Jahre rückten sie wieder in den Mittelpunkt des Stadtgeschehens, als Pläne öffentlich wurden, den Inlandhafen für Bürogebäude und Stadtautobahnen zuzuschütten.

In der Bevölkerung regte sich Unmut. „Bis dahin haben die Menschen die Planer gewähren lassen, haben zugesehen, wie historische Gebäude Hochhäusern und Straßen weichen mussten, aber bei den Docks war Schluss“, erzählt Jerry Hicks von der Bristol Civic Society, einer Bürgerinitiative, die sich dem Denkmalschutz und der humanen Stadtentwicklung verschrieben hat. Zusammen mit anderen Initiativen kämpfte sie für den Erhalt des Inlandhafens – und setzte sich durch. Heute sind die Docks ein beliebtes innerstädtisches Freizeit- und Kulturzentrum. Die restaurierten Stapelhäuser beherbergen Anwaltskanzleien und betuchte Mieter, Kinos und Galerien. An schönen Sommertagen ist an den Cafétischen im Freien kaum ein Platz zu ergattern, und die Zuspätgekommenen nehmen ihr Glas Cider oder Ale mit hinüber zu den Kaimauern, um den bunt bemalten Hausbooten und schnittigen Motorjachten zuzusehen, wie sie träge übers Wasser gleiten.

Noch aber sind es vorwiegend Einwohner Bristols und seiner Nachbarorte, die hierher kommen. Touristen zieht es eher an die weiten Strände Cornwalls, in das nahe gelegene Weltkulturerbe Bath oder zum steinzeitlichen Mysterium Stonehenge. Das soll sich durch das Bristol-Museum ändern.

Doch der Friede ist schon wieder gefährdet. Auf einem 22 Hektar großen Gelände neben dem Museum ist ein Wohn- und Freizeitkomplex geplant, dessen erste öffentlich gewordenen Entwürfe der britischen Denkmalschutzbehörde, English Heritage, Sorge bereiten. Arbeiten, Freizeit und Wohnen sollen rigoros voneinander getrennt und in gesichtslosen, mehrstöckigen Hochhäusern verstaut werden, die den so beliebten Blick von den Docks auf Bristols Kathedrale verstellen. Jerry Hicks schüttelt den Kopf: „Wir werden alles tun, damit das so nicht gebaut wird.“ Und damit steht er nicht allein. Wenn sich die Geschichte wiederholt und sich die Bristolians durchsetzen, dann hat nicht nur das Museum, sondern auch ihre Stadt alle Chancen, zu einem Tourismusmagneten des nächsten Jahrhunderts zu werden.

Anja Martin