Herr Ewald, der Prophet

Für den siebten Monat 1999 kündete Nostradamus einen Schreckenskönig an. Der kam nicht, ein Hesse weiß warum. Der Weltuntergang kommt auch heute nicht. Aber bald.  ■   Von Jens Rübsam

„Ihre Zeitung“, ruft Herr Ewald zum Abschied hinterher, „wird nach dieser Geschichte ganz groß rauskommen.“ Vielleicht denkt sich ja Herr Ewald: Schlechte Nachrichten sind immer gute Nachrichten.

Schreckliches hat Herr Ewald zu berichten: Im September wird London überflutet, Japan geht unter, und Atlantis taucht wieder auf. Im Februar 2000 führen die Amerikaner und die Chinesen Krieg. Im März nehmen die Türken den Balkan ein. Im August greifen die Russen Westeuropa an. Im Oktober, am 14., zwischen 19 und 21 Uhr, stürzt ein Meteorit (2,5 Kilometer lang) in die Nordsee (55 Grad nördliche Breite, drei Grad östliche Länge) und löst eine gewaltige Flutwelle (250 bis 300 Meter hoch) aus. Nord- und Westdeutschland, Dänemark, Holland, Nordwestfrankreich und England werden überspült. Im Januar 2001, so um den 10., donnert ein Asteroid auf Nordamerika hernieder und löscht Mittelamerika gleich mit aus. Einen Monat später wird es zwei Drittel der Menschheit nicht mehr geben. Es wird das Goldene Zeitalter anbrechen: fünfzig Jahre Frieden, Ruhe, Wohlstand und eine geistig gereifte Bevölkerung. Dann wird der 4. Weltkrieg wüten. Dann Christus wiederkehren. Dann das tausendjährige Friedensreich ... Dann, im Jahre 3797, das Ende des Schöpfungsprozesses ... Dann das ewige Leben. Puhhh! Herr Ewald furzt.

Ein Anruf bei Herrn Ewald am Mittag des 28. Juli. Auf dem Schreibtisch türmte sich alles über die Sonnenfinsternis, alles über den Propheten Michel de Notre-Dame und noch viel mehr über den bevorstehenden Weltuntergang. Zu lesen war da etwa: Der Modeguru Paco Rabanne sieht die russische Raumstation Mir abstürzen und Paris in einem Feuermeer verschwinden. Die Astrologin Elizabeth Teissier erwartet den Aufprall einer plutoniumhaltigen Sonde. Der Unheilsverkünder Alexander Tollmann wähnt den Ausbruch des 3. Weltkrieges und wird den 11. August in einem Bunker verbringen. Und Telefonseelsorger stöhnen über Anrufer, die die Sonnenfinsternis als Zeichen der Apokalypse fürchten.

„Ewald!“, grummelt eine Stimme vorsichtig ins Handy. Sonnenfinsternis? Weltuntergang? 11. August? Ein lustiges Lachen kriecht durch die Leitung. Dann wird es still – und ernst. „Wenn, dann wird es morgen, am 29. Juli, ein Weltbeben geben“, sagt Herr Ewald. „Schon morgen?“ – „Schon morgen!“, sagt Herr Ewald bestimmt. Irgendwie klingen die Erklärungen des Hans-Jürgen Ewald durchaus einleuchtend. Mitte des 16. Jahrhunderts schreibt der Arzt, Seher und Astronom Nostradamus seine Vorhersagen auf. In Vers 10,72 heißt es: „Das Jahr 1999 siebter Monat, vom Himmel wird ein großer Schreckenskönig kommen.“ Es gilt der Julianische Kalender. Der Gregorianische tritt erst 16 Jahre später, 1582, in Kraft. Er überspringt 13 Tage. Finsterlinge wie Rabanne, Teissier und Tollmann ziehen nunmehr daraus den Schluss: Mit dem „Schreckenskönig“ kann Nostradamus nur die Sonnenfinsternis am 11. August 1999 meinen. Der siebte Monat kann also nur der achte sein, dem heutigen Kalender angepasst. „Missbrauch von Nostradamus“, schimpft Herr Ewald gewaltig in den Hörer. Wenn Gott Nostradamus habe schreiben lassen „sept mois“, habe er auch „sept mois“ gemeint. Nur noch ein Tag also! Dann wird die Erde beben!

„Ewald!“, grummelt es Tage später wieder aus der Leitung, es ist Anfang August, ein schöner Tag, und die Nachrichtenlage ist lau wie die Tage zuvor: BSE, verteuertes Benzin, Kosovo, Steuern, kein Beben, nirgends. Herr Ewald bietet Hilfe an. „Sept mois“, sagt er, „könnte auch als September-Monat gedeutet werden.“ Noch einen Monat also! Dann wird die Erde beben! Endgültig!

Wenn ja? Eine tolle Geschichte! Man sollte mit dem Nostradamus-Forscher aus dem hessischen Groß-Gerau vorher geredet haben. Wenn nein? Auch eine passable Geschichte. Immerhin ist das Jahr 1999 die letzte konkrete Zeitangabe, die Nostradamus seinen Interpreten an die Hand gegeben hat. Geschieht nichts, hätte der Unheilsspuk ein Ende. Herr Ewald sagt dazu nur: „Ich wäre frustriert. Ich müsste mich fragen, was dran ist an meiner jahrelangen Arbeit. Sie müssten mich dann beim Psychiater besuchen.“ Aber, tönt er kurz darauf schon wieder vergnügt, es werde alles passieren, was er gesagt habe. „Sie werden schon sehen.“

Herr Ewald wartet am Bahnhof. Es ist nicht schwer, ihn zu erkennen. Er ist der einzige, der wartet. Niemand wartet einfach so auf dem Bahnhof Groß-Gerau – nicht einmal der Herr Ewald, von dem die Leute sagen, er sei „ein wenig komisch“ oder „ein bisschen eigenartig“, wie sich Bürgermeister Hohl ausdrückt.

Bürgermeister Hohl kennt Herrn Ewald gut genug. Sie waren Parteifreunde. Herr Ewald war mal in der SPD und ist sich heute noch gewiss: „Ich sollte auf die Schiene 'hessischer Kultusminister‘ gebracht werden.“ Dazwischen liegt nur die Frankfurter Startbahn West, gegen die er kämpft. Dem damaligen Ministerpräsidenten teilt er seinen Austritt auf zwei Seiten mit. Das Parteibuch legt er dem Brief gleich bei.

Freundlich weist Herr Ewald den Weg vom Bahnhof durch die Stadt zu seiner Wohnung, was verwundert. Hatte er doch schon am Telefon gesagt: „Eigentlich mag ich Groß-Gerau nicht.“ Weil hier in Pogromzeiten die Leut am Straßenrand heftiger geklatscht hätten als anderswo. Weil er hier eine Ehe geführt habe, die „im Grunde nichts wert war“. Weil er hier als Journalist unter einem Chefredakteur zu arbeiten hatte, der alle Artikel, die die Stadt betrafen, vor Druck von der Verwaltung absegnen ließ. Weil sich hier, wie ihm in einer Vision mitgeteilt wurde, „im nächsten Jahr eine paramilitärische Bürgerwehr bilden wird, die Ausländer hetzt“. Bürgermeister Hohl erinnerte sich an den Hessen-Tag vor fünf Jahren. „Der Ewald hatte öffentlich angekündigt: Es werden Sportflugzeuge mit wehenden Bändern, darauf Nazi-Embleme, über Groß-Gerau kreisen.“ Die Polizei nimmt die Sache ernst und versetzt ihre Flugbereitschaft in Alarm, völlig unnötig. „Vereinsamt und isoliert“, urteilt Bürgermeister Hohl über seinen Bürger Ewald abschließend.

Herr Ewald ist 57 und adrett gekleidet: pinkfarbenes Hemd, strahlend grüne Hose, und er stinkt ein wenig, was aber am Deodorant liegt. Er lebt auf 25 Quadratmetern unter dem Dach eines „Apartmenthauses“, was ein schönes Wort ist für dieses wackelnde und knarrende Gebäude. Höflich bittet Herr Ewald herein und sagt: „Das göttliche Leuchten hat sich bei mir niedergelassen.“ Beweise hat er – natürlich – keine. Wie soll man auch Visionen beweisen können? Er könne davon nur berichten. Das tut er recht ausführlich, und am Ende gelangt er zu der stolzen Erkenntnis: „Vielleicht soll von mir eine Warnung ausgehen.“

Herr Ewald schleicht durch den Raum und sagt, die Sache habe angefangen 1986. Die Sache? Die erste Vision. Dieses goldene Licht, „das von außen kommt, sich auf mich herabsenkt, in mir verschwindet und sich ausbreitet wie ein wonniges Gefühl“. Ungefähr so wie der Teddybär aus der Waschmittelwerbung, der in einen Berg Watte plumpst. Herr Ewald sagt, es seien immer mehr Visionen gekommen. Eine, in der er den Meteoriteneinschlag in der Nordsee gesehen hat. „Ich stand in der Wetterau, blickte über den Taunus hinweg, über den Westerwald, über England, über Norddeutschland. Das Ding schwebte über mich hinweg. Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich den Meteoriten berühren. Er reichte vom Schwimmbad Groß-Gerau bis an den Waldesrand Groß-Gerau.“ Am Tag danach ruft er an beim städtischen Katasteramt: Die Kilometer? Zirka? „Rund zweieinhalb Kilometer“, wird ihm Auskunft erteilt. Er fertigt eine Zeichnung an. Die holt er nun aus der Schublade und reicht sie herüber. Vielleicht geeignet zum Abdrucken?

Es fällt leichter, alle Visionen des Herrn Ewald zu deuten als alle zu notieren. Einmal erscheint ihm ein Trupp forscher Mannsbilder. Der, der vorneweg marschiert und Disziplin einfordert, sagt: „Wir kommen aus dem Königreich Hannover und marschieren nach Bonn.“ Ein ander Mal sieht er eine junge Frau in hübschen Kleidern, ihr Gesicht ein heller Fleck. Später lernt er eine Frau kennen, 32 Jahre. Sie ist gekleidet wie die aus der Vision. Er heiratet sie. Sie lassen sich scheiden. Und werden, sofern Herrn Ewalds Vision stimmt, dieses Jahr wieder zusammenfinden.

Herr Ewald schenkt sich H-Milch nach, richtet sein Hemd, das er offen trägt, und kramt wieder in Papieren. Fünf Bände liegen auf dem kleinen Tisch, die Übersetzung der 942 Nostradamus-Verse plus Interpretationen. Seit Jahren tut er nichts anderes, als Worte zu wälzen und Andeutungen zu entschlüsseln. „Die Wahrheit“, sagt Herr Ewald einmal, „ist für mich Gott.“ Und Gott habe Nostradamus die Vierzeiler in den Block diktiert – sein Ziel, bis ins Jahr 3797, dem Ende der Prophetien, die Welt zu reinigen: von Kernkraftwerken und Atombomben, von Drogen und Gruppensex; die Welt „zurückgebombt ins 19. Jahrhundert, reduziert auf das Wesentliche“.

Plötzlich sitzt Herr Ewald still in seinem Zimmer und fixiert die Stereoanlage. „Im Stillen wünsche ich mir aber manchmal“, sagt er, „ich könnte meine Klassik-CD-Sammlung hinüberretten“. Nun ja: Visioniert hat er, dass die Russen auf ihrem Feldzug durch Westeuropa Groß-Gerau links liegen lassen und dass die Flutwelle nach dem Meteoriteneinschlag in die Nordsee nur noch leicht in die hessische Kleinstadt schwappt. Aber woher den Strom nehmen? Es scheint in diesem Moment so, als habe sich Herr Ewald irgendwie verspekuliert. Wie schon einmal.

Wenn Propheten auf Propheten hören, kann das ausgehen wie beim „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel. Herr Ewald glaubt dem bayerischen Brunnenbauer Alois Irlmaier. Der hatte in den fünfziger Jahren vorausgesagt: „Der dritte Neuner wird Frieden bringen.“ Und Herr Ewald glaubte an sich, an seine Nostradamus-Interpretation: Dass der angekündigte Schreckenskönig im siebten Monat 1999 den Abschluss einer Entwicklung zum Guten markiert und nicht, wie er jetzt weiß, „den Ausgangspunkt“ darstellt. Freizügig genießt Herr Ewald also das Leben: Für 90.000 Mark schön essen, viele Bücher, aufwändige Forschungsreisen – irgendwann besitzt das Wörtchen Erbschaft mehr Buchstaben, als Herr Ewald Scheine auf seinem Konto hat. Jetzt hat Herr Ewald „Stütze“ beantragt. „Nicht schlimm“, trotzt Herr Ewald, „Notzeiten dienen der geistigen Reifung.“

Ein Tag der großen Belehrungen. Ein Nostradamus in weißen Socken und ein zweifelnder Schüler. „Jetzt habe ich eine Sensation für Sie“, beginnt Herr Ewald oft, oder: „Das sollten Sie nicht vergessen aufzuschreiben.“ Oder: „Ich gebe Ihnen noch ein Bonbon.“ In einem Vers will er den Verführer Michael Jackson ausgemacht haben, in einem anderen den Wasserstoffbombenabwurf auf Malta. Einen dritten zeigt er her, weil sich hier der Name Franco findet. „Tatsächlich hat Nostradamus kein einziges Ereignis wirklich vorausgesagt. Im Nachhinein ergibt manches Sinn, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Es lässt sich vergleichen mit einem Schützen, der auf eine Wand schießt, um alle Einschusslöcher Kreise malt und dann sagt: Getroffen“, bewertet die Gesellschaft für wissenschaftliche Untersuchung und Parawissenschaften.

„Am 1. Oktober werde ich Sie anrufen!“ Herr Ewald lacht, als sei versprochen worden, an Weihnachten werden es 30 Grad plus. „Sie werden sich schon im September bei mir melden“, beschwört Herr Ewald. Große Katastrophen bedürfen guter Analysen.

„Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich den Meteoriten berühren. Er reichte vom Schwimmbad Groß-Gerau bis an den Waldesrand.“