Kick den Winkel

■  In Dresden trägt man Brachialpoetik in Plastiktüten. Zweifellos ein Saisonerfolg des unbeirrt interagierenden Theaters in der Fabrik

Löbtau: ein vergessener Stadtteil, zehn Minuten von Dresdens barocker Touristenmeile entfernt, abseits aller Investspekulation. Stark frequentierte Trinkhalle neben der „Erotic Show“ im Magic Seven. Statt Hochglanz-Styling werden Plastiktüten und Alltagsgesichter getragen. Hier, im Dostojewskischen toten Winkel der Gesellschaft, hat das Theater in der Fabrik (TIF) eine Kulturenklave geschaffen, die sich seit sechs Jahren ästhetisch und funktional zunehmend vom Mutterschiff Staatsschauspiel emanzipiert.

Auf der Suche nach einer eigenen Ästhetik hat sich auch in Dresden eine ganze Generation nachwachsender Theatermacher aus den Kulturerbe pflegenden Bildungsbürgerpalästen zurückgezogen und vertraut ihr Lebensgefühl verlassenen Industrieruinen an. In Baracken, stillgelegten Zechen oder – im Falle des TIF – einer stillgelegten Druckerei bestimmt der Raum die Ästhetik beim Versuch, Existenz und Ausgrenzung an den Randzonen der Städte glaubwürdiger darzustellen.

In Dresden hat man zur Umsetzung dieses Konzepts auf die hauptstädtische Erfahrung der Eva Johanna Heldrich gesetzt, die im vergangenen Jahr als Künstlerische Leiterin vom Berliner Theater am Halleschen Ufer ans TIF geholt wurde. Seit über zehn Jahren mit den unterschiedlichsten Spielarten des Unter-schwierigen-Bedingungen-Theater-Machens vertraut, erarbeitete die studierte Theaterwissenschaftlerin, Kunstgeschichtlerin und Publizistin mit ihrem dreiköpfigen Arbeitsteam für Dresden eine Mischung aus Angesagtem, Durchgesetztem und einem gerüttelt Maß Experiment.

„Ästhetisch zeitgemäß und eigenständig“ sollen die präsentierten Arbeiten sein, was im TIF seit Spielzeitauftakt 1998/99 vor allem die Darstellung von Lebenswelt einer jungen Generation bedeutet, die sich der „Erwachsenenwelt“ bewusst entzieht. Der unverständlichen Sinn- und Sinnenlosigkeit von deren Verantwortungsstrukturen setzt sie eine konsequent körperbezogene Happeningkultur entgegen, die sich selbst als Wechsel zwischen den Extremen, vom Drogenexzess bis zur Verstümmelung, inszeniert. Das heißt für die Bühne: Weg vom Steh- und Sprechtheater hin zu körperintensivem Spiel in Versatzstücken, zur stücktragenden Improvisation.

Spielzeitauftakt zum Anfüttern der kinogewohnten, theaterentwöhnten Studentenschaft: Kaurismäkis „I hired a Contract Killer“. Erfolgsplot meets jungen Regisseur (Christoph Roos) mit eigenwilligen ästhetischen Ambitionen. Die Inszenierung entwickelt sich in Dresden zum Publikumsrenner. Etwa zeitgleich werden mit dem Gastspiel des Berliner Choreografen Xavier Le Roys und der Uraufführung von „Amorph erstarrte Schmelze“, einer Choreografie des Lissaboners Ludger Lamers und der Brüsselerin Isabelle Schad, Inszenierungen zwischen Performance und zeitgenössischem Tanz als feste Größe im Haus etabliert. Tanzworkshops und das Gastspiel von Luc Dunberry mit seiner Berliner Sophiensaele-Produktion „Anything else“ zur Dresdener Tanzwoche folgen. Dem vor allem an Klassik und Ausdruckstanz geschulten Dresdener Publikum werden internationale Arbeiten geboten, die, ganz auf der Linie des Hauses, mit brachialpoetischen Choreografien Alltagsgeschichten erzählen: von verhinderter Kommunikation, Menschenbenutzen und -wegwerfen, Spritzen auf dem Klo, Einsamkeit allenthalben und ein Theater ohne Illusionen.

Danach natürlich – daran kommt man heute schon deshalb nicht vorbei, weil sie es aus dem toten Winkel ins Zentrum der deutschen Theaterbühne geschafft haben – die Briten. Kurz aufeinander wurden Conor McPhersons „Salzwasser“, Enda Walshs „Disco Pigs“, Marin Crimps „Angriffe auf Anne“ und Mark Ravenhills „Faust ist tot“ inszeniert. Künstlerische Zielsetzung war dabei sowohl der Anschluss an den internationalen Standard als auch die Formulierung eigenständiger Ästhetik.

Denn wenngleich Blut und Sperma in der militant sauberen Provinzresidenz noch absolute Reizthemen sind, dienen sie den Jungregisseuren längst nicht mehr zur Schocktherapie. Ihnen geht es um das Aufspüren der poetischen Muster von Schlüsselerfahrungen in den Texten. Hass, Gewalt und Scheitern werden in Bilder der Einsamkeit und des Rausches umgesetzt; und immer wieder der Versuch, Gegenentwürfe zur Fun-Generation zu liefern, Visionen zu schmieden.

Die Frage war, ob es dafür Publikum gibt. Denn in dem Versuch der Darstellung „echter Gefühle“, „wirklicher Lebenskrisen“ dieser Generation manifestiert sich gleichsam eine romantische Verklärung der gesellschaftlichen Realität, die in Deutschland – zumal in Dresden – ganz anders als in den Britpop-Stücken aussieht. Weder Armut noch Drogenkonsum oder gar Todessehnsucht spielen im Leben der Dresdener Kids heute eine ernst zu nehmende Rolle. Das lange britische Warten zwischen Langeweile und sinnloser Aktion erinnert genau genommen eher an alte Ostzustände.

Was das Publikum reizt, ist der abgelegene Spielort und die vom Film abgeguckte schnelle Szenenfolge. Gemeinsam bilden sie den Rahmen, in ästhetisch vorgefertigte und dramatisch aufgeladene Gefühlswelten einzudringen, die heute keiner mehr in seiner abgezirkelten Existenz zwischen Uni, Büro, Fastfood und Disco erleben wird. Auf der Vorstadtschmuddelbühne holt man sich gezielt den Kick, den die eigene Existenz nicht bietet.

Im Grabenkampf ums Publikum setzt also auch Dresdens Staatsschauspiel – das ist allgemeiner Trend – auf „Häusersplitting“ und lagert Bühnen an „besondere Orte“ aus. Mit handverlesenem Spielplan wird versucht, für jede der drei Bühnen eine ganz spezielle Zielgruppe zu gewinnen. Eva Heldrich ist es gelungen, eine Gruppe vielversprechender Regisseure an ihr Haus zu binden, die klassische Inszenierungsformen aufbrechen, indem sie nichtlineare Dramaturgien und experimentelle Versuchsanordnungen austesten. Mit interaktiven Inszenierungen, zum Beispiel Johannes Greberts „Dionysos 99“, oder der Aufspaltung von Figuren in multiple Charaktere wie in in Crimps „Angriffe auf Anne“ oder Paul Austers „Land der letzten Dinge“ (Regie: Christoph Roos) hat man schon in der vergangenen Spielzeit neue Wege beschritten, die auch künftig das autonome Image des Hauses ausmachen werden.

Hinzu kommt eine für das Dresdener Staatstheater nahezu revolutionäre Form des Produzierens. Heldrichs Teams setzen sich nicht nur aus Stadttheaterkünstlern zusammen, sondern werden mit Leuten aus der freien Szene aufgemischt. Die wechselnde Gastbesetzung spart Festanstellungskosten und garantiert kreative Reibung. Das von der vielseitigen Konkurrenz profitierende Staatsschauspiel sorgt für den mietfreien Raum; Ausstattung und Bühnenbild werden in seinen Werkstätten gefertigt.

Dresden, einst neben Berlin die wichtigste Theateradresse der DDR, hatte sich nicht zuletzt durch regimekritische Inszenierungen als wichtiger Faktor beim Sturz der Diktatur erwiesen. Nach dem Zusammenbruch hat das Theater – wie überall im Osten – auch wegen des Wegfalls seiner Funktion als politische Institution eine Zeitlang mit dem Rücken zur Wand gestanden. Jetzt arbeitet man sich mit neuen Ideen aus dem toten Winkel heraus. Trotz ökonomischer Zwänge hat das TIF die Chance, sich im Schutz der größeren Institution langsam, aber stetig zu entwickeln.

Jünger, schlanker, dynamischer – das muss man heute im Osten sein. Aber, so Eva Heldrich, wenn man auch auf lange Sicht vorn bleiben will, muss man gezielt und kontinuierlich Schauspieler und Regisseure aufbauen und vorsichtig begleiten. Deswegen ist sie hier. Deswegen wird sie erst mal bleiben. Und das TIF wird sich aus dem toten Winkel weiter in die richtige Richtung bewegen.

Katharina Holler

Die ästhetische Emanzipation vom Mutterschiff Staatstheater ist geglückt