Ohne Abendanzug zur Bügelvorlage

Fernsehen ist nicht mehr das, was es mal war? Der Zuschauer aber auch nicht: kein Respekt mehr vor Clerici & Co. Über gereifte Konsumenten und ein kindisch gewordenes Medium    ■ Von David Fischer-Kerli

Auf dem Weg vom Kind zum Manne oder von der Kindin zur Frau verändert sich die Wahrnehmung des heranwachsenden Menschleins. Dabei lernen wir unter anderem, dass zu jedem Menschen eine Vielzahl von gesellschaftlichen Rollen gehört, die wir im Alltag spielen müssen. Wir lernen aber relativ früh auch umgekehrt, dass mit den Rollen, mit denen wir es zu tun bekommen, immer auch die jeweiligen Menschen verbunden sind. Wir respektieren es, dass unsere Eltern auch eigene Wünsche und Bedürfnisse haben.

Auch als Fernsehkonsumenten werden wir älter, vielleicht reifer, wahrscheinlich notgedrungen zynischer. Von der fröhlichen und leicht bekifften Welt eines Herrn Rossi bis zu Twin Peaks ändert sich unser Glotzverhalten über die Jahre grundlegend. Und auch hier verändert sich das Denken. Der Entdeckung, dass wohl auch Lehrer Menschen sind, und der unweigerlich nächsten Einsicht, dass Mama und Papa zum Zweck unserer Zeugung miteinander Geschlechtsverkehr gehabt haben müssen, folgen erste leise Ahnungen davon, dass das Leben von TV-Prominenten nicht nur aus den Teilen besteht, die wir beim Friseur im Goldenen Blatt anschauen können. Nur: Manchmal ist das mehr, manchmal weniger offensichtlich.

In der Jugend erschienen uns TV-Showmoderatoren und selbst die Schlagersänger aus der ZDF-Hitparade dank ihrer mit Glamour umgebenen und einigermaßen gut bezahlten Rolle als strahlende, makellose Wesen. Nach Jahren immer häufiger enttäuschten Glotzens hat sich allerdings der Eindruck festgesetzt, dass sich ein Großteil der Fernsehprominenz wahlweise aus schmierigen Versicherungsvertretern und/oder Gebrauchtwagenhändlern rekrutiert (im besten Fall) – oder aber aus abgehalfterten Alkoholabhängigen und/oder (im schlimmsten Fall) Vollidioten mit Fönfrisur.

Bereits der Respekt vor Werner Schulze-Erdel, Harry Wijnvoord und Ingo Dubinski blieb spürbar hinter dem vor – sagen wir mal – Hans-Joachim Kulenkampff, Robert Lembke und Hans Rosenthal zurück, und das war, bevor Arabella, Birte Karalus und Christian Clerici kamen. Sind nur wir größer geworden – oder das Fernsehen kleiner?

Einiges spricht für das letztere. Ein Clerici ist Welten von Kulenkampff entfernt. Das liegt an seinem anderen Rollenverständnis. Konnte man selbst bei Werner Schulze-Erdel noch bei jedem verpatzten Scherz deutlich spüren, wie gerne er lieber Kulenkampff wäre, aus simplem Mangel an Talent aber einfach nicht sein konnte, fehlt bei Clerici sogar das Streben nach Originalität in der Präsentation. Kommunikative Nullen wie Arabella oder Birte gehören dagegen untrennbar zu ihrem Programmformat; Rosenthal an derselben Stelle wäre eine Fehlbesetzung. Sprich: nicht nur unsere Bewertung von TV-Glamour ändert sich, sondern gleichzeitig nimmt auch der Glamour selbst ab. Die Gameshow ist vom Samstagabendereignis zur nachmittäglichen Bügelvorlage geworden, der Abendanzug des Moderators zum Sat.1-farbenen Jackett mutiert.

Entsprechend hört auch die Reihe zunehmender Vernietung des Personals (Ausnahmen bestätigen die Regel) von Kulenkampff über Clerici bei Birte noch gar nicht auf. Denn zur – wenigstens zeitweiligen – Fernsehprominenz gehören auch die „Gäste“ der Halb- bis Achtelgötter der TV-Unterhaltung. Früher waren Talkshows intellektueller Smalltalk für Leute, die sich auch nachts um zehn noch kluge Worte reinziehen wollten; die Gäste waren im Regelfall berühmt, kultiviert und durch sehr viel Geld zum Kommen motiviert. Die Spielteilnehmer der Samstagabendshows bestanden aus braven Familienvätern und -müttern, erschienen im Sonntagsstaat und ließen sich vom Gastgeber bis zum Punkt der Beinahe-Selbstersäufung im „Spiel ohne Grenzen“ herumkommandieren. Heute dagegen lädt Harald Schmidt zur Late-Night alles ein, was einigermaßen den Busen vorstrecken kann, und „Talkshow“ bezeichnet mittlerweile eine Zusammenkunft unappetitlicher Proleten mit unappetitlichen Themen. Es ist zwar nicht wirklich jedem möglich, für fünfzehn Minuten berühmt zu sein, wie Warhol voraussagte, aber immerhin mehr – oder vielmehr: anderen – Gruppen als früher.

Eine logische Folge der Entwicklung der Senderlandschaft: Waren in den Programmübersichten der Vergangenheit ein „erstes“, ein „zweites“ und ein „drittes Programm“ verzeichnet, so haben wir heute 40 Kanäle, auf denen im Zweifelsfall zwar nichts Sehenswertes läuft, die aber zunehmenden Personalbedarf und Zielgruppen haben, die sich auch zahlenmäßig von RTL bis arte deutlicher zwischen den Sendern ausdifferenzieren. Tendenz: Jeder zusätzliche Zuschauer senkt das Niveau. Denn nicht nur das TV-Personal hat sich in den letzten Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert, sondern auch die verbreiteten Inhalte. Für beides gilt: In demselben Maß, wie das Fernsehen zur alltäglichen Hintergrundberieselung verkommt, wird umgekehrt der Alltag zum Fernsehen.

Schien früher die glitzernde Welt der TV-Unterhaltung Normalsterblichen kaum zugänglich, so kann man heute nicht nur in Talkshows, sondern auch in Doku-Soaps und den „Reportagen“ der Privatsender das stinklangweilige Alltagsleben normaler Menschen noch ein zweites Mal erleben.

Mit breitem Pinsel malende Soziologen sprechen von einer Inszenierungsgesellschaft, in der Aufmerksamkeit zur neuen Währung wird, wichtiger als Geld. Mediale Aufmerksamkeit war nur in der Entstehungsphase der Massenmedien ein Privileg der Schönen und Reichen, Massenmörder, Filmstars und Politiker. Das Fernsehen unterhöhlt, das Internet bricht diesen Damm und ermöglicht es fast jedem, sein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zu befriedigen und sich in Szene zu setzen. Das könnte aber nicht funktionieren, wenn diese Angebote an Inszenierung nicht auch nachgefragt würden. Und sie werden, denn Aufmerksamkeit ist die Sprache der Inszenierungsgesellschaft für alle Seiten.

Wenn jemand seinen banalen Alltag im Fernsehen überträgt, sehen wir dennoch hin: Wir sind aufmerksam, denn alles ist bunt, wird schreiend angekündigt – und kommt in dem Kasten, in den wir sowieso gerade sehen. Vielleicht kommt ja anschließend etwas Besseres.

Mitarbeit: Ragnar Heil,

Stephanie Vetter