Verfinsterte Festtage

■  Frankfurt an der Oder feiert Kleist mit einer Uraufführung von Dzevad Karahasan – und schließt dennoch sein Kleist-Theater

Müde sitzt er da, griesgrämig und genervt, der letzte Gast im literarischen Salon der Johanna Schopenhauer, in Weimar, 1830. Der alte Geheimrat Goethe hat seine Gedanken nur schweifen lassen zwischen Faust und der Vergangenheit, und nun hat er unwissentlich selbst eine schwankende Gestalt herbeigerufen, wie Faust seinen Mephisto. Als tranig-mauliger Dichterjüngling kommt Kleist in Manfred Webers Inszenierung im schwarzen Ledermantel daher: ein Mann mit existentialistischer Pose, nach durchzechter Nacht – der Goethe sofort wieder an dessen Weimarer Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“ erinnert.

Kain und Abel im Spiegel der Literaturtheorie

Kleist und Goethe: Das sind für Dzevad Karahasan, den 1953 in Bosnien geborenen Schriftsteller, in seinem Kammerspiel „Der Atlas des Empfindens“ zwei feindliche Brüder: Kain und Abel, also archetypische Brüder. Karahasan ist ein gebildeter Mann, als Doktor der Literaturtheorie hat er viel über Goethe und Kleist gedacht und geschrieben. Sein Stück kommt daher wie ein Referat, voll von Psychologie und Philosophie, von Theorie und Analyse. Ödipus lässt grüßen, und die Früchte der Literaturwissenschaft werden auch ausgebreitet. Die beiden unterschiedlichen Söhne zweier verschiedener Frankfurts, am Main und an der Oder, werden dabei erst mal nicht in Aktion, sondern im Vortrag präsentiert. Ein Maschinist, als Mittelding aus Grubenarbeiter und Lokomotivführer, öffnet hinterm Gazevorhang auf der Hinterbühne die Wirklichkeit der Gedanken. Zeiträder und Scherenschnitte der Dichter, Marionettenbühne und Penthesilea an Strippen, ungeschicktes Schattenspiel und Erklärtheater: all das bekommen wir von einem zugleich bedeutungsvollen wie ausdrucksarmen Spielmeister geboten.

Aber auch Goethe und Kleist sind keine Temperamentsbündel, wenn sie sich über das Leben und die Literatur streiten. Kleist spricht von heftigen Empfindungen, von Schmerz und Schrei, Goethe von gebändigten Empfindungen und von der Form, und so reden sie unterm Mehltau des essayistischen Textes über sich und gegeneinander. Johanna Schopenhauer, die wie ein zickig-kokettes Fräulein mit roten Korkenzieherlocken daherkommt, fungiert nur als Bande für die hin und her holpernden Sätze.

Der Streit der feindlichen Brüder als Streit der Kulturen: Karahasan zeigt die Urform der Auseinandersetzung, ohne ihr eine dramatische Spannung, einen theatralischen Mehrwert einzuhauchen. Zwei Künstlerprogramme werden aus den Literaturgeschichten geholt und auf der Bühne gegeneinander gestellt, nicht gegeneinander geschlagen. Was bleibt, ist gepflegtes Gerede.

Manfred Weber, der auch das Bühnenbild eingerichtet hat (statt eines Salons eher ein Dichterstübchen mit Bücherstapeln), arbeitet zwar mit Karahasan als Dramaturgen an einem dreiteiligen Büchner-Projekt am Nationaltheater Sarajevo, dennoch findet er für dessen Gedanken zu Goethe und Kleist keine szenische Form.

Allenfalls Einfälle, die die kleine Schar der meist aus Berlin angereisten professionellen Theaterbesucher zu verlegenen Lachern animierten. Ist in einer Parabel von einem Papagei die Rede, wird flugs eben ein solcher im Käfig auf die Bühne getragen. Verhandelt man Penthesilea, eilt der Maschinist mit blutbespritzter Schlachterschürze auf die Bühne und präsentiert uns rohes Fleisch auf dem Tablett. Dzevad Karahasans Stück: eine Totgeburt aus Bildung, über die Manfred Webers Inszenierung die graue Schlafdecke zieht.

Ein trostloser Abend eines Stadttheaters in trostloser Lage. Die beschlossene Abwicklung und Schließung des Kleist-Theaters zum Ende der Spielzeit bringt kein Aufbäumen mehr hervor. Erst wurden Ballett und Chor gestrichen, dann das Orchester ausgegliedert, dann das Musiktheater abgeschafft. Nun ist das Ende beschlossene Sache. Was im Kleist-Kultur- und Kongress-Zentrum, das mit 70 Millionen Mark EU-Geldern gerade errichtet wurde, dann gezeigt wird, das bestimmen die Kataloge der Tourneebühnen.

Kleist erscheint überall in seiner Geburtsstadt, selbst auf den Kreditkarten der einheimischen Sparkasse. Auf einem Karren kam der Dichter gezogen, verlieh der Stadt seinen Namen zu Beginn der erstmals im August (statt wie bisher im Oktober, um den Dichter-Geburtstag am 10. herum) ausgetragenen 9. Kleist-Festtage. Doch trotz Jahrmarkt im Stile des 18. Jahrhunderts, trotz Straßentheater an der Oder, trotz Gastspiel-Koproduktionen aus Italien und vom Roma-Theater Pralipe: Die Frankfurter kümmerten sich herzlich wenig um die Festtage.

Freiheitskampf mit Comicfiguren

Nur in die Ruine der St.-Marien-Kirche, seit letztem Jahr wieder überdacht, strömte das Publikum. Hier wird es in der Mitte des mächtigen Backsteinbaus auf einer steilen Tribüne von Spielort zu Spielort gedreht. „Die Hermannschlacht“, Kleists kompliziertes Stück über Fremdherrschaft und Freiheitskampf der Germanen, wurde von Michael Funke als Comic mit großen Bildwirkungen inszeniert. Hermann erscheint als ein gebrochener, vom „notwendigerweise“ selbst verübten Terror gezeichneter Mann; die Germanen sind bepelzte Zottelwesen, die Römer strahlend schicke Fantasiefiguren aus der anderen Welt. Eine Aufführung, die das Stück nicht aktualisierte, sondern konzentrierte. Theater als Ereignis einer Sommernacht: das will das Publikum.

Was werden soll mit den Kleist-Festtagen, das wissen weder die Theatergötter noch die Stadtoberen. Eines ist klar: Kleist ist ein Werbe- und Wirtschaftsfaktor. Nur, wie mit dem Dramatiker umgehen in Zukunft, in seiner Geburtsstadt Frankfurt an der Oder?

Hartmut Krug