„Mein Gewissen, mein Gewissen, sag ich!“

Die Rhetorik Martin Walsers in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche im Oktober 1998 wirft die Frage nach dem Fortwirken der nationalsozialistischen Moral auf. Aus Anlass des Todes von Ignatz Bubis eine „Nachgeholte Lektüre einer Sonntagsrede“ von Jan Philipp Reemtsma

1. Was würden Sie von jemandem halten, der Sie in regelmäßigen Abständen beiseite nähme und Ihnen eingehend versicherte, er sei inzwischen ganz normal? So viel zu Walsers Frage: „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk?“

2. Walser zitiert Kleist, „Prinz von Homburg“, so: „Es kann keiner vom anderen verlangen, was er gern hätte, der aber nicht geben will. Und das ist nicht nur deutsche idealistische Philosophie. In der Literatur, zum Beispiel, Praxis. Bei Kleist. Und jetzt kann ich doch noch etwas Schönes bringen. Herrliche Aktionen bei Kleist, in denen das Gewissen als das schlechthin Persönliche geachtet, wenn nicht sogar gefeiert wird. Der Reitergeneral Prinz von Homburg hat sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten, der Kurfürst verurteilt ihn zum Tode, dann, plötzlich: 'Er ist begnadigt!‘ Natalie kann es kaum glauben: 'Ihm soll vergeben sein? Er stirbt jetzt nicht?‘ fragt sie. Und der Kurfürst: 'Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt / Trag ich im Innersten für sein Gefühl / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier' ich die Artikel; er ist frei!‘ Also, es wird ganz vom Gefühl des Verurteilten abhängig gemacht, ob das Todesurteil vollzogen wird. Wenn der Verurteilte das Urteil für ungerecht halten kann, ist er frei.“

Natalie kann es kaum glauben. Ich auch nicht. Bei Walser wird der Prinz von Homburg begnadigt, weil er das Urteil für ungerecht hält, bei Kleist allerdings erst, nachdem er sich schuldig bekennt. Der Weg dahin ist gewunden, auch mancherlei Interpretationen offen, aber das „Gefühl“, dem im Stücke Achtung bezeugt werden soll, ist nicht das Gewissen des Zivilisten, sondern das des untergebenen Militärs: „Er handle, wie er darf; / Mir ziemt's hier zu verfahren, wie ich soll!“

3. Dabei klingt es wie eine Definition von Gewissen – nicht, was ein anderer (vielleicht) darf, sondern was ich muss –, jedenfalls protestantisch. Nun ist das protestantische Gewissen verdammt innerlich, aber mit sich allein ist es nicht. Aus der protestantischen Ansicht, es sei nicht moralisch, was nicht unter Gewissenszwang zustande komme, folgt keineswegs, dass das Gewissen autonom entscheide, was gut oder böse sei. Tatsächlich entscheidet natürlich jeder für sich, was gut, böse, richtig und falsch ist, und darum braucht es Außenkorrektive, ob diese sich nun als Forderung, an Bräuchen teilzunehmen, oder verinnerlicht als Gewissenzwang melden. Könnte das Gewissen sich selbst freisprechen, es gäbe kein schlechtes. – „Ein gutes Gewissen ist keins“, sagt Walser und hat auch Recht. Ergebnis: Gewissen wegdefiniert.

Gewissensentscheidungen nennt man solche, bei denen auf Grund von Wertekonflikten jemand nicht der einen oder anderen Normvorgabe folgen mag. Er entscheidet sich so oder so oder so, und wenn er sich dabei auf sein Gewissen beruft, sagt er damit, die Entscheidung sei bedeutsam, er habe sie wohl erwogen und sie sei für ihn von hoher Verbindlichkeit. Er behauptet nicht, sie sei unanfechtbar. Die Entscheidungen, die „nur mich etwas angehen“, gehen nur mich etwas an, wenn sie und ihre Konsequenzen tatsächlich nur mich etwas angehen.

4. „Wenn ein Denker 'das ganze Ausmaß der moralisch-politischen Verwahrlosung‘ der Regierung, des Staatsapparates und der Führung der Parteien kritisiert, dann“ – hat er vielleicht Unrecht. Oder er spinnt. Aber dass „der Eindruck nicht zu vermeiden (sei), sein Gewissen sei reiner als das der politisch-moralisch Verwahrlosten“, ist Unsinn. Es kann so sein, muss aber keineswegs. – „Den Anschein vermeiden, man wisse etwas besser“, was für eine skurrile Maxime. Etwas besser wissen und Besserwisserei ist ebenso wenig dasselbe wie moralische Kritik und moralische Überhebung. Wer etwas besser weiß, weiß nicht alles besser; wer Handlungen als moralisch falsch kritisiert, behauptet damit nicht, ein besserer Mensch zu sein. Kritik als Besserwisserei abzuwehren ist ebenso dumm, wie es amoralisch ist zu fordern, jemand müsse entweder ein nachweislich besserer Mensch sein, um über Moral reden zu dürfen, oder stille schweigen. All das heißt nur eine Mauer ziehen gegen unliebsame Einrede. Die Rhetorik dieser Grenzziehung: scheinbare Selbstverständlichkeiten so ungenau formulieren, dass sie absurd werden, aber ihren Zweck erfüllen – Gemeinschaft stiften. Denn so ganz allein ist denn doch niemand gerne mit sich und seiner „durchgängigen Zurückgezogenheit in sich selbst“.

5. Mit siebzig sollte man nicht mehr von allen gemocht werden. Wo einer sich der Öffentlichkeit verweigern und Intimität herstellen will, muss er sich eingeschränkten Öffentlichkeiten zur Schau stellen oder sein Publikum in einen Haufen Gleichgesinnte verwandeln. Walser ist das gelungen, indem er in der Paulskirche geredet hat, als wäre er im Gasthof. Mit Augenzwinkern: „Sie wissen schon“, mit: „Warum bietet sich mir das so dar?“ und: „Was fehlt meiner Wahrnehmungsfähigkeit?“ – da schmunzeln sie schon – „Oder liegt es an meinem zu leicht einzuschläfernden Gewissen?“ – und lachen bereits (Walser! und einzuschläferndes Gewissen!) – „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“ – und da werden sie endlich laut (Genau! In welchen Verdacht geraten wir! 50 Jahre! Ein ganz gewöhnliches Volk sind wir!).

Die 1.000 Zustimmungsbriefe, die Walser, wie er sagte, bekommen hat, möchte ich nicht lesen. Nach seiner Aussage steht Folgendes drin: „Was wir bis jetzt hinter vorgehaltener Hand sagten oder unter Freunden sagten, das haben Sie öffentlich ausgesprochen und dafür sind wir Ihnen dankbar. So, und ich denke: Das müssen wir jetzt ernst nehmen.“ Vermutlich.

6. Walser hat sich klar ausgedrückt, und seine Rede ist nicht missverständlich gewesen: Die Klarheit, die für eine Debatte nötig gewesen wäre, hat er nicht herstellen wollen, weil er keine Debatte wollte. Aber die Klarheit, zwischen denen zu unterscheiden, die mit ihm diese Debatte nicht wollten, und den anderen, hat er hergestellt. Er hat zwischen Wir und Sie unterschieden, und er hat es so gemacht, dass die ins Wir sich eingeschlossen fühlen, wissen, was er meint. Er hat geeint. Es ist sein Beitrag zur inneren Einheit gewesen: „ 'Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offen halten.‘ Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“ – Die einen (draußen) zucken die Achseln: „Gewiss, das stimmt irgendwie, wir könnten ihm zustimmen, wenn er es doch klarer sagte, und was meint er mit 'Moralkeule‘ und für wen ist Auschwitz 'Drohroutine‘, und warum eigentlich zittert Walser?“ Die anderen (innen) sagen: „Genau so isses.“ – Walser wollte keine „Schlussstrichdebatte“ beginnen, sondern eine Grenze markieren.

7. „Die Instrumentalisierung unserer Schande“, immer wieder „Schande“: „Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird“ – „diese Dauerrepräsentation unserer Schande“ – „die Vorhaltung unserer Schande“ – „die Monumentalisierung unserer Schande“. Er hätte vom Verbrechen sprechen sollen, hatte Ignatz Bubis eingewandt, und Walser nahm es für den Beleg dessen, woran er Ärgernis genommen hatte: dass man vorschreibe, wie zu reden sei. „Wenn Herr Bubis mir vorschreibt, ich darf nicht Schande sagen, sondern ich soll Verbrechen sagen, dann bemerke ich darin eine Vorschrift, Herr Bubis. Dann wollen Sie mir sagen, wie ich mit meinem Gewissen umgehen soll. Und dann wehre ich mich dagegen.“ Bubis hatte Einwände gemacht, Einwände gehören zu einer Debatte. Walser hatte keine Debatte gewollt, sondern eine Grenze markieren wollen. Für ihn war Bubis' Einrede die Verletzung dieser Grenze und gleichzeitig nach innen Beleg, wie notwendig diese Grenze sei. – Schande, so weiß jeder, der sich „der Sprache ausliefert“, wie jeder, der ein Wörterbuch zu benutzen weiß, ist „Ehrverminderung“ („O Schand' und ew'ge Schande, nichts als Schande!“, ruft Shakespeares Herzog von Bourbon auf dem Feld von Agincourt, als er die Niederlage erkennt, und Fontanes Frau Hulen sagt dem frankophilen Feldwebel in „Vor dem Sturm“ und denkt auch an eine verlorene Schlacht: „Aber nichts für ungut, Herr Feldwebel Klemm, davon dürfen wir nicht sprechen, denn das ist ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, und das Unglück von damals oder die Schande von damals, ich weiß nicht, was richtig ist, das muss nun begraben und vergessen sein.“).

Dem Verbrechen folgt die Empfindung der Schande ebenso wenig automatisch wie ihr Vorhandensein auf ein voraufgegangenes Verbrechen schließen lässt. Aber trotzdem ist Walsers Wort nicht einfach das falsche Wort. Für Schande gilt (anders als für Schuld etwa oder Verantwortung), dass man ihrer ledig ist, wenn man sich ihrer ledig fühlt, und wer darauf besteht, sie existiere fort, wer nicht ablässt, sie vorzuhalten, der tut Unrecht. Mit der Wahl des Wortes „Schande“ konstituiert Walser ein Wir, das nur aus Selbstzuschreibungen besteht, ein ebendarum dummes, aber, das ist der Ertrag so beschaffener Dummheit, seiner selbst gewisses Wir.

8. Als Daniel Goldhagen anlässlich der Verleihung des Demokratiepreises der Blätter für deutsche und internationale Politik seine Dankadresse verlas, attestierte er den Deutschen, eine ganz normale Gesellschaft geworden zu sein, und alle die, die Walser, wie ich vermute, „Meinungssoldaten“ nennt, waren verstimmt. Der Rheinische Merkur schrieb, nicht unbedingt das Gesagte zureichend referierend, aber die Pointe schön herausarbeitend: „Die meisten der zweitausend Zuschauer musste dieses Lob ratlos machen. Hatten sie nicht vorher in Jürgen Habermas' Laudatio gehört, dass Goldhagen das notwendige Gegenstück zu einer konservativen Geschichtsverharmlosung geschrieben habe? Hatte ihnen nicht Jan Philipp Reemtsma in seiner Rede erklärt, dass die kollektive Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen, erst mit Goldhagens Buch, der Wehrmachtsausstellung und den Klemperer-Tagebüchern 'unerwartete Erfolge‘ aufzuweisen habe? Für die Kritik am deutschen Umgang mit der Vergangenheit gab es Beifall, bei Goldhagens Lob auf ebendiesen Umgang malte sich eher verlegene Ratlosigkeit auf den Gesichtern ab. Und gerade deshalb liegt der Verdacht nahe, dass viele nicht nur gekommen waren, um den Preisträger zu ehren, sondern auch, um sich selbst als aufrechte Minderheit inmitten der geschichtsvergessenen Mehrheit zu feiern. Den Thesen von den 'willigen Vollstreckern‘ zuzustimmen heißt für sie, Widerstand gegen einen neokonservativen Zeitgeist zu leisten. Goldhagens Dankesrede ließ – möglicherweise unbeabsichtigt – diese Haltung als einen Widerstand erscheinen, der nichts kostet, weil die berechtigte Forderung nach einem schuldbewussten und schuldzuweisenden Blick auf die deutsche Geschichte längst in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion eingelöst wurde.“ – Goldhagen hatte gesagt, die Deutschen hätten, notgedrungen zunächst, mangelnder staatlicher Souveränität wegen, gelernt, auf das Urteil anderer zu achten. Diese Not habe sich in eine Tugend verwandelt, und er hoffe, auch das neu vereinigte Deutschland werde sich an diese Tugend halten. Es gehöre zu einer erwachsenen Auffassung von Tugend, nicht nur auf die innere Stimme zu hören, sondern auch auf das Bild in den Augen der anderen zu achten.

9. „Wissen Sie“, sagte Martin Walser im Gespräch zu Ignatz Bubis, „was Sie einmal gesagt haben, Sie haben gesagt, der Walser will seinen Seelenfrieden. Hätten seine Vorfahren dafür gesorgt, dass die Juden nicht umgebracht wurden, hätte er seinen. Herr Bubis, das sage ich Ihnen: Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie. Und wie ich ihn kriege, das ist in mir, das ist mein Gewissenshaushalt. Und da lasse ich mir von niemandem, auch nicht von Ihnen, dreinreden. Oder ich pfeife drauf, dann schenke ich es Ihnen.“ Seine Rede habe befreiend gewirkt – „Befreiende Wirkung heißt, unser Gewissen ist unser Gewissen, das lassen wir uns nicht von anderen vorschreiben“. Keine Spekulationen von anderen darüber, wer Wir wohl sind: „Ich lasse mir die tausend Briefe nicht schlecht machen“, und: „ Ich habe noch nie in diesen Jahren so etwas Volksabstimmungshaftes erlebt. [...] Das kann nicht nur ein Missverständnis meiner Rede sein.“ Bubis: „Zum großen Teil schon.“ Walser: „Meine Briefschreiber sind in der Mehrzahl ehrenwerte Leute. Also bleibt es dabei.“

10. Es ist nicht inkonsequent, wenn Walser dem deutschen Staatsbürger Bubis untersagen möchte, zu deutschen Angelegenheiten Stellung zu nehmen: „Ich glaube, ich habe Sie im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage ich Sie, als was waren Sie dort?“ Bubis: „Ich stand vor dem Haus mit den verrußten Fenstern und habe mir vorgestellt, es waren Menschen drin und es wurden Molotowcocktails dort reingeschmissen. Das hat bei mir schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Nur, das habe ich auch gesagt, [...] das war in Lichtenhagen der Mob. Und das, woran ich mich erinnert habe, das war der Staat, der das organisiert durchgeführt hat.“ Walser: „Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort rückgebunden an 1933 [...]. Und das können die Leute nicht mehr ertragen, und das wollen sie nicht andauernd hören, und darauf haben sie ein Recht, denn sie haben mit diesem Spuk nichts mehr zu tun.“

Auf die Frage der BuntenIllustrierten, was er seinem Mitbürger Ignatz Bubis zu Weihnachten wünsche, antwortete der Deutsche Martin Walser: „Einen so guten Rotwein, wie ich ihn trinken werde. Chateaux Margaux, Premier Cru. Der ist völkerverbindend.“

11. Walser: „Und, Herr Bubis, da muss ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich.“ Bubis: „Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte.“ Walser: „Und ich musste, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen.“ – „Weiter leben“ – aber so heißt ein anderes Buch, nicht: „Ein springender Brunnen.“

Jan Philipp Reemtsma, Jahrgang 1952, ist Literaturwissenschaftler. Seinen Text entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Mittelweg 36– Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Heft 4/99; Themenschwerpunkt: Raphael Gross/Werner Konitzer: „Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral“.