Metaphysische Tränen

Und manchmal auch Empörung: In „Schillers schönes Fieber“ betreibt Marion Titze den literarischen Essay als kurvenreichen Langstreckenlauf und dechiffriert Schreib- und Lebensstrategien  ■   Von Anke Westphal

Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden. Vielleicht fiel diese – nur noch vage erinnerbare – Parole in ihrer ganzen didaktischen Pracht den Klassikern des Marxismus-Leninismus ein, vielleicht auch nur einem Funktionär der FDJ. Und ist das wichtig? Lustiger scheint, dass diese Zeigefinger-Parole ihre eigene zeitgeistige Umkehrung anregt: Es ist nicht nötig zu wissen, man muss nur anzuwenden verstehen. Der Unterschied zwischen beiden Sätzen ähnelt in etwa dem zwischen einem Foto und einem Image. Das erste kann ein Objekt sein, ist aber sinnhaft mit dem Dargestellten verknüpft. Das zweite ist Objekt und begnügt sich mit der eigenen Symbolhaftigkeit.

Was hat das nun mit den literarischen Essays zu tun, die Marion Titze in ihrem neuen Buch „Schillers schönes Fieber“ versammelt? Zum einen weiß Titze ungeheuer viel von Literatur und Literaten, zum anderen verschleudert sie ihr Wissen nicht in symbolhaften Handreichungen für den nichts als gebildeten Leser. Es geht Titze um das Sinnhafte und nicht um das Symbol. Titze, das merkt man diesen Essays an, hat ihre Dichterlinge langsam gelesen und noch länger über sie nachgedacht – oder fantasiert. Das Ergebnis dieser Zeitinvestition ist ein Kondensat aus Wissen, Philosophie und Empathie, das vielleicht auf ähnlich kostspielige Art gewonnen wurde, wie ein Tropfen Rosenessenz aus 100 Kilo Rosenblüten. Den eigentlichen Preis solcher Bücher bezahlt der Autor; er dürfte mit keinem Honorar der Welt aufzuwiegen sein.

Worum geht es in „Schillers schönes Fieber“, außer dass von Schiller die Rede ist? Es geht um seltsame Paare, um Mismatching – Thomas Mann und Gottfried Benn, Schiller und Brecht, Dürer & Baudelaire & De Chirico, Novalis und dessen jungfräuliche Geliebte Sophie von Kühn, die Autorin selbst (als Kind eines NVA-Offiziers) und deren religiöse Freundin. Das ist die Faktenseite. Auf der Inhaltsseite handelt „Schillers schönes Fieber“ von Menschen, die „Ideenwebstühle“ (Novalis) sein müssen, ohne anders zu können, und es handelt von den Lebens- und Schreibstrategien dieser Menschen.

Titze, so der hässlich eindeutige Untertitel, versucht „Diagnosen“ von literarischen Programmen, keine Psychogramme der Autoren. Sie sucht zu ergründen, wie der Dichter seine persönlichen Anlagen ins Allgemeine wendet und zur künstlerischen Anschauungstechnik macht. Eine „sich selbst verzehrende Seele“ lässt sich auf viele Arten ruhig stellen: durch „Selbstinstruktion“ wie bei Benn, maßvolles Liebeswerben (um Größe und Erfolg) wie bei Thomas Mann, durch überhöhende Schwärmerei wie im Fall Novalis, durch Rausch und Vernunft auch und durch ordnendes Schreiben überhaupt.

Titzes Diagnosen erheben weder Anspruch auf Objektivität noch Vollständigkeit; Melancholie ist immer dabei, manchmal auch Empörung. Zu den „Ideenwebstühlen“ gehört die Autorin selbst: Indem Titze Wissen und Empfinden in ihren Essays nicht als Dualismus behandelt, sondern das Empfinden erneut als eine Form des Wissens akzeptiert, dockt sie literaturgeschichtlich an die Romantik an. Literarische Kenntnis gepaart mit nichtvernünftiger Ahnung, die erst Verstehen, dann Wissen und zuletzt Form wird – so wie bei der 1953 bei Chemnitz geborenen Titze – ist der sichere Weg zu einem guten Essay.

Hier leistet die Schreiberin dieser Zeilen selbst einen Teil der „Riesenarbeit der Idealisierung“, von der im Buch einmal (bei Schillers „Jungfrau von Orleans“) die Rede ist, nur in Bezug auf eine literarische Gattung. Und das anhand einer Autorin, deren Texte außer von Sachkenntnis eben auch „von der Glut vergeistigter Sehnsucht“ leben. Titzes Schreiben folgt dem inneren Affentanz zwischen diesen beiden Polen, doch das allein macht die Autorin (und all ihre bisherigen Bücher) nicht so bemerkenswert. Wenn Subtilität das Wissen um und die Gestaltung von Übergängen ist, dann kann man Titzes Essays hochsubtil nennen. Im Falle Novalis war es ein kleines und einfältiges Gedicht, das die Aufmerksamkeit der Autorin erregte. Novalis schrieb es anlässlich des Kaufs eines Gartens – kurz nachdem seine Geliebte im Alter von 15 Jahren starb. Diesen Tod kennzeichnete Novalis später selbst als vernichtenden Schicksalsschlag, doch das Garten-Gedicht und sein definitiver Verlust stehen in keinerlei Verhältnis, nicht einmal in einem umgekehrten, zueinander.

Zuletzt noch eins: Manchmal streift ein Hauch aus Robert Walsers Grab die Autorin – man sollte es ihr verzeihen, weil man es kann. Dieser Walser ist nicht der schlechteste Einfluss, und „letztendlich ist es allein der Gutgläubige, der tatsächlich an die Vernunft glaubt“. Oder an die Ideen der unabhängigen Seele.

Marion Titze: „Schillers schönes Fieber. Diagnosen“. Ammann Verlag, Zürich 1999. 158 Seiten, 34 DM