Lustige Exekutivkommandos

Vom alternativen Gegenentwurf zum bürokratisierten Kommerzspektakel: Das Edingburgh Fringe Festival ist am eigenen Regulierungswillen erstickt  ■   Von René Zipperlen

Zu mehreren Dutzend stehen sie hier auf der High Street, Festivalhelfer mit hymnischen Handzetteln, Zeitschriften und anderem Druckmaterial, im Kampf um die Touristenströme. Aus der Höhe betrachtet, müsste man diesen Vorgang für ein seltsames Ritual halten, einen Spießrutenlauf durch ein Spalier der kleinen Künste, deren Opfer, das potenzielle Publikum, nicht ungeschoren passieren darf. Einer aber fällt auf in diesem werbestrategischen Exekutivkommando. Er vermag den Spaß der anderen nicht zu teilen, da sie ihm seinem zugeteilten Standplatz streitig machen: der Verkäufer der Obdachlosenzeitung The Big Issue, der am Ende der Doppelreihe außen vor steht und daran erinnert, dass es noch ein Leben außerhalb des Festivals gibt im Edinburgh dieser Wochen.

Nachdem 1947 das Edinburgh International Festival als eine nationenübergreifende Friedensfeier gegründet wurde, gesellten sich diesem Flaggschiff der etablierten Kunst im Lauf der Jahre und im Sog des großen Erfolges die Festivals für Film, Buch, Jazz & Blues und Military Tattoo hinzu. Das wohl bekannteste ist das Fringe Festival, das sich im Gründungsjahr als alternativer Gegenentwurf, als Franse am großen Vorhang des International verstand, dieses aber mittlerweile an Größe weit überragt.

Aus ursprünglich acht uneingeladenen Theatergruppen erwuchs ein enormes Geschwür, das dieses Jahr mit 1.643 täglichen Programmpunkten aus Theater, Musik, Tanz und Comedy beinahe jedes Kellerloch der Stadt in einen Theatersaal verwandelte und für drei Wochen zum größten Arbeitgeber der Stadt wurde. Das enge, aus düsterem Stein aufgetürmte Stadtzentrum wird dabei zu einem brodelnden Kessel, der ein labyrinthisches Netz mehr oder weniger geduldiger Warteschlangen in die Straßen ergießt. Die historische High Street weist die längste auf, wenn sich 8.000 meist pensionierte Busreisende auf 700 Meter Länge dem Military Tattoo, dem romantisch verklärten Zapfenstreich profilierter Dudelsackregimenter, entgegen schlängeln.

Die Straße wird zur größten Freilichtbühne, auf der Feuerschlucker, Jongleure, Musiker und Theatergruppen für ihre Auftritte werben. Trotz ernst zu nehmender Kritik an der gewaltigen PR-Maschine ist bei der unüberschaubaren Veranstaltungsmenge genau dieser Kontakt mit dem Publikum eine notwendige Voraussetzung für etwaigen Erfolg. Und das Herz dessen, was den Zauber des Fringe außerhalb der Säle ausmacht.

Das wummernde Spektakel droht nun aber, für Erstbesucher kaum bemerkbar, ein Opfer seines eigenen Erfolgs zu werden. Die Spontaneität der Kleinkunstolympiade, die spätere Stars wie John Cleese ins Licht der Öffentlichkeit gebracht hat, wird von ihrer eigenen Größe an die Wand gedrückt. Viele Veranstaltungen spielen vor fast leeren Rängen, weil, wie Fringe-Veteran Richard Demarco – der Mann, der einst Joseph Beuys nach Schottland holte – klagt, „die Fringe vom Kommen der Kritiker abhängig geworden ist, und wenn sie an den ersten drei Tagen nicht da waren, hat man Pech gehabt.“

Der Sturm auf die Straße und auf das Publikum hat die Verantwortlichen dieses Jahr dazu bewegt, die High Street straff zu reglementieren. Der englische Independent notierte bereits: „Die Fringe läuft Gefahr, in Bürokratie zu ersticken.“ Die Künstlervereinigung wird zur Ordnungskraft: Companies müssen sich nun für ihre Straßenauftritte registrieren lassen, auf Verstärker jeder Art verzichten, für umgerechnet 750 Mark eine gefährlich hohe Versicherung abschließen und fünfzehnminütige Slots an zugewiesenen Stellen buchen. Ebenfalls neu ist, dass Ordnungshüter unpassende Gruppen, sogenannte sick acts, von der Straße verweisen dürfen.

Der verständliche Aufruhr unter den Künstlern gipfelte am 11. August im spektakulären Auftritt des Zirkusdirektors Jim Rose, seit 20 Jahren auf dem Fringe-Festival. Er schnitt mit einer großen Kettensäge das Wort „NO“ in einen Apfel, den ein Helfer zwischen seinen Zähnen hielt, verbrannte seine Performerkarte und erklärte: „Hier hackt man dem Fringe die Beine ab, auf dem es steht. Dies ist das erste Künstlerfest, das mit einer Gestapo-Organisation kooperiert.“ Zwar stellte Paul Gudgin, der Leiter der Vereinigung, die Maßnahmen als Hilfe für die Gruppen dar, doch verriet der Stadtbeauftragte Phil Attridge ein ganz anders geartetes Interesse: „Das Übermaß an Straßenauftritten führt dazu, dass sich Touristen auf der High Street nicht mehr wohl fühlen und im nächsten Jahr vielleicht nicht wieder kommen. Das können wir nicht wollen.“ Von den geplagten Anwohnern ganz zu schweigen.

Das Fringe Festival nimmt hier die Entwicklung vieler Freier Feste, die mit zunehmendem Erfolg wachsen und ihre Spontaneität einbüßen. Bereits wird gemutmaßt, dass sich ähnlich dem Off-Off-Broadway ein Neben-Fringe als Reaktion auf zunehmende Kommerzialisierung ausbilden könnte. Unabhängig von der Hauptveranstaltung, die ursprünglich das ungebändigte Gegenstück zum International Festival sein sollte.

In einer Stadt, die im August mit einer halben Million so viele Besucher wie Einwohner verkraften muss, sind die Grenzen der Aufnahmefähigkeit bald erreicht. In der dritten Festivalwoche sind die Taxifahrer aggressiver, die Ladenbesitzer schroffer und die Gereiztheit allgemein größer.

Am Sonntag ging das Fringe-Festival zu Ende, und der auf einmal völlig allein gelassene obdachlose Verkäufer des Big Issue sprang und rannte die Straße entlang, schwenkte eine Dose Bier in der Hand und schrie rotgesichtig aus Leibeskräften: „Hello-o, the Festival is fucking! You can all go home now! Why don't you all fuck off home now!“ Und morgen gehen endlich wirklich die Letzten, weil dann auch das International Festival zu Ende ist.