Volle Wasserkraft voraus

Die Privatisierung des Energiesektors in Brasilien kippt die Umweltauflagen und lässt neue Dämme sprießen. Kommission tagte unter kritischer Beobachtung    ■ Von Gerhard Dilger

São Paulo (taz) – So viele dunkelhäutige BrasilianerInnen sind wohl noch nie ins noble Rebouças-Tagungszentrum gekommen: Landarbeiter, Fischer, vorwiegend Mischlinge, Indianer und Schwarze. Naserümpfend betrachten die Angestellten die Frauen mit ihren Säuglingen und verständigen schließlich die Polizei. Die reißt ein Transparent von der nahe gelegenen Fußgängerbrücke und postiert sich vor der Halle.

Anlass des Auflaufs: Das öffentliche Lateinamerikahearing der World Commission on Dams (WCD). Mit fünfzehn Bussen sind auch Mitglieder von 32 Quilombos aus dem Süden des Staates São Paulo angereist. Diese afrobrasilianischen Gemeinschaften werden durch den geplanten Bau von vier kleineren Staustufen bedroht, und mit ihnen die noch am besten erhaltene Region des Atlantischen Küstenwaldes.

Zwei Tage lang trugen Staudammbefürworter und -gegner von Mexiko bis Chile ihre Statements vor. Die Hälfte der Referenten kam aus Brasilien, wo die Wasserkraft aus 2.200 Dämmen 93 Prozent des Strombedarfs abdeckt. Von 1975 bis 1985 boomte das Geschäft: Neue Megaprojekte verdreifachten die Stromkapazität und ermöglichten eine rasante Industrialisierung, trieben aber auch die Auslandsverschuldung in die Höhe. Die regierenden Militärs sorgten für den reibungslosen Vollzug.

Itaipú an der Grenze zu Paraguay ist einer dieser Megastaudämme. Bis heute lässt das 12.600-Megawatt-Kraftwerk das Herz eines jeden Staudammfans höher schlagen. Dass für Staudämme im ganzen Land eine Million Menschen ohne Entschädigung zwangsumgesiedelt wurden, zählt aus dieser Perspektive wenig.

Der Staudammbau hat aber auch weitreichende ökologische Konsequenzen. Der US-Forscher Philip Fearnside zeigte, wie die amazonischen Riesendämme Tucurui und Balbina zum Treibhauseffekt beitragen: Aufgrund der vermodernden tropischen Vegetation in diesen flachen und großflächigen Stauseen entstehen CO2- und vor allem Methanemmissionen. Der „harmlosere“ Tucurui-Stausee belaste die Atmosphäre genauso viel wie die 18-Millionen-Metropole São Paulo.

Mitte der achtziger Jahre endete die Militärdiktatur, und die internationale Umweltdebatte zeitigte auch in Brasilien erste Ergebnisse. Umweltverträglichkeitsprüfungen wurden gesetzlich vorgeschrieben. Auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene entstanden neue Kontrollmechanismen. Zahlreiche Großprojekte wurden verzögert oder verhindert, kaum neue auf den Weg gebracht.

Doch seit einigen Jahren schnuppern die Staudammbefürworter wieder Morgenluft. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso findet eine kontinuierliche Privatisierung des Energiesektors statt. Umweltauflagen gelten als investitionshemmend und werden dementsprechend gelockert. Bis zum Jahr 2015 möchte Brasiliens Regierung 434 neue Dämme bauen lassen, darunter wieder einige spektakuläre Großprojekte im Amazonasbecken. Durchsetzbarer scheinen derzeit mittelgroße Wasserkraftwerke mit einer Kapazität bis zu 500 Megawatt.

„Die Regierung hat kein Interesse an einer Diskussion über die neue Energiepolitik“, bemängelt der Geograph Carlos Vainer. „Die neue Energiekontrollbehörde ignoriert soziale und ökologische Aspekte völlig. Die privaten Konzessionäre können die Umweltgesetze noch leichter umgehen als bisher die Staatsbetriebe.“ Gegen diese Tendenz haben linke Kongressabgeordnete nun die Schaffung einer nationalen Staudammkommission beantragt, in der sich Regierung, Stromfirmen und Zivilgesellschaft über die Energiepolitik beraten.

Am Rande des WCD-Hearings vereinbarten die anwesenden lateinamerikanischen NGOs und das kalifornische „International Rivers Network“ (IRN) eine stärkere Zusammenarbeit. Auch wenn es vor allem darum geht, auf kontinentaler Ebene einen regelmäßigen Austausch zu organisieren: Neue Bündnispartner aus Europa sind jederzeit willkommen.