Die Mauer lebt

Taz-Serie „10 Jahre Mauerfall“: Ein Boom von Kunstwerken begleitet das Jubiläum. Doch die Künstler lösen sich nur langsam von gängigen Klischees, ein platter Naturalismus dominiert    ■ Von Rolf Lautenschläger

Die Leere zwischen Ost und West existiert noch – im Stadtraum ebenso wie in den Gefühlen

Zwei bunte Streifen in Blau und Rot schlängeln sich quer durch den Berliner Stadtgrundriss. Vor dem Landtag an der Niederkirchnerstraße kreuzen die rund 20 Zentimeter breiten, in die Erde eingelassenen Betonintarsien den Gehweg. Am Brandenburger Tor markieren die 20 Zentimeter breiten, in die Erde eingelassenen Betonbänder die Straßen. Dann laufen sie in Richtung Potsdamer Platz weiter. Im Gewirr provisorisch angelegter Straßen an der „größten Baustelle Europas“ verlieren sie sich schließlich. Auch an anderen Stellen der Stadt lodern rote und blaue Betonschienen am Boden, ein zusammenhängende Ganzes indessen bilden die Farbspuren noch nicht.

Die Streifen gehören zum Kunstprojekt „Memento Muri“, mit dem der Künstlerin Angela Bohnen den ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer nachzeichnet. Die blaue Farbe steht für die östliche Hinterlandmauer, die rote für die eigentliche Mauer auf der Westseite. Dazwischen liegt der einstige Todesstreifen. Ein Mahnmal will Bohnen mit ihrem „abstrakten Monument“ allerdings nicht schaffen, sondern die einstige Trennungslinie erfahrbar machen: behutsam, ohne Pathos, als eine Chiffre des Todesstreifens, der jetzt überwunden werden kann. Es wird noch Jahre dauern, bis Bohnen die gesamte innerstädtische Strecke von 43 Kilometern nachgezeichnet hat.

Im Boom künstlerischer Arbeiten zum Thema „10 Jahre Mauerfall“ sticht Bohnens Projekt als besonders gekonnt heraus. Sympathisch an ihrem Konzept ist, dass es peu à peu entsteht. Es entwickelt sich mit Hilfe der Bürger oder Unternehmer, die am jeweiligen Abschnitt des Mauerstreifens wohnen oder arbeiten. „Die Finanzierung soll von verschiedenen privaten und öffentlichen Initiativen ermöglicht werden“, sagt Bohnen. Der Wille, der ursprünglichen Topographie zu gedenken, gehe also „von potentiell allen“ aus. „Es liegt auch in ihrem Wollen, inwieweit und wie schnell diese Markierung gezogen werden könnte“, sagt die Künstlerin. Erinnerung entsteht, sie wird nicht verordnet oder marktschreierisch feilgeboten.

Memento Muri gehört auch 10 Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer zu den Ausnahmen beim Versuch einer künstlerischen Annäherung an das Sujet Mauer oder Mauerfall. Die meisten Künstler zeichnen Bilder der Mauer nach, die sich – auch wegen des Geschäfts – dem langjährigen Klischee der einstürzenden Betonrudimente, der Graffiti-Symbolik oder der Atmosphäre des Todesstreifens verhaftet bleiben.

Zuhauf dominiert ein platter Naturalismus. So auch in den Bildern von Pascal Valu, der in der Ausstellung „Wall-Fall“ des Werkbund-Archivs mittels fotografischer Durchblicke zwischen Beton-Segmenten die Durchlässigkeit des Grenzwalls vor Augen führt. Oder die East-Side-Gallery, jene plakative Bilderwand am östlichen Spreeufer.

Um die Darstellung scheinbar authentischer Relikte geht es auch dem Mauermuseum am Checkpoint Charlie, dem offiziellen Fluchgeschichtenmuseum Berlins mit weit über 100.000 Besuchern und Umsätzen von mehreren Millionen Mark jährlich. Objekte aus der Asservatenkammer der DDR dienen als museale Mahnzeichen historischer Bezüge und schlimmer Zeiten. Sie halten die Mauer im „Bewusstsein“, ihre Geschichte und menschliche Dimension „lebendig“, meint Museumsleiter Rainer Hildebrand.

Selbst die gerade erst fertig gestellte Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße sagt sich als Kunstwerk nicht los von der offiziellen Linie (West-)Berliner Kulturpolitik, die die Inszenierung des Mauer-Horrors schon für eine künstlerische Auseinandersetzung hält – und damit sensationslüsternen Touristen gute Kameramotive liefert. Kunstbände, Foto- und Postkartenserien, T-Shirts oder Videos schwelgen zum 10jährigen „Jubiläum“ in Erinnerungsmythen. Ausstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik wie derzeit im Martin-Gropius-Bau tun ein Übriges.

Erst zögerlich umgesetzt wird die Forderung nach einer abstrakten, reflektiven oder konzeptionellen Kunst, wie sie die Kunstkritikerin Gisela Sonnenburg aufstellt: „Die Mauer war nicht nur Grund, auf ihr zu malen, sondern ist auch Anlass, schöpferisch zu werden. Mauersteine als Ursprung von Wort und Tat, als Antrieb, aktiv zu werden. Als Antrieb künstlerischen Seins. Als Stolperstein?“

Dass die Mauer sich in den Köpfen der Künstler langsam verwandelt, zeigt die Arbeit von Angela Bohnen. Auch der Berliner Künstler Frank Thiel bekennt sich mit seiner Installation am Checkpoint Charlie zu einem neuen Umgang mit dem Thema. Am ehemaligen Grenzübergang hat er einen Leuchtkasten installiert, der zwei junge Soldaten, einen amerikanischen und eine sowjetischen, zeigt. Bleich, fast unschuldig blicken sie in den jeweils anderen Sektor hinüber. Nicht nur der Mauerbau werde damit in Frage gestellt, sondern auch das Militär, erklärt Karin Nottmeyer von der Senatsabteilung „Kunst im Stadtraum“. 150.00 Mark hat das Land für die Installation bezahlt, die in einem künsterlischen Wettbewerb prämiert wurde.

An allen sieben ehemaligen Grenzübergängen sollen bis Ende 1999 Kunstwerke entstehen, die an die Teilung der Stadt erinnern. An der Oberbaumbrücke, der Grenze zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, ist schon eine Lichtinstallation von Thorsten Goldberg entstanden. Karla Sachse stellt an der Chausseestraße aus, dem ehemaligen Übergang zwischen Mitte und Wedding. Schließlich kommt der frühere Grenzübergang Sonnenallee zwischen Neukölln und Treptow mit einer fernrohrartigen Plastik an die Reihe.

Eine neue Qualität von Mauerkunst, die ähnlich wie Bohnens Konzept auch auf die Beteiligung der Menschen dies- und jenseits des Ex-Todesstreifens setzt, wurde im August in einer Ausstellung des stadtgeschichtlichen Archivs Treptow erlebbar. Die Schau konfrontierte private Fotos und Bilder von Ost- und Westberlinern, die 28 Jahre an der Grenze zwischen Treptow und Neukölln lebten – „in geteilter Nachbarschaft“, so der Titel der Schau.

Die musealen Bilderwelten aber waren den Ausstellungsmachern nicht genug. Vielmehr stellten sie in den Mittelpunkt des Projekts die Frage nach der Veränderung, die zwischen 1989 und 1999 im Alltag der Bürger stattgefunden hat: „Haben die nachbarschaftlichen Beziehungen die städtische Leere heute überbrückt?“ Die Beteiligten antworteten mit unprätentiösen Fotos, die ihren eigenen Umgang mit dem Stadtraum künstlerisch reflektierten. Nicht Verklärung des Mauerfalls, nicht überhöhter Mythos kommen darin zum Vorschein. Vielmehr sieht man den Bildern an, dass die Leere – im Stadtraum ebenso wie in den Gefühlen – zwischen Ost und West noch existent ist. Die Mauer als unsichtbares Zeichen lebt weiter.