Der Wunsch nach Ruhe und Repräsentation

Die Freien Kammerspiele Magdeburg gehören zu den innovativsten Bühnen Ostdeutschlands. Doch die Politiker der Landeshauptstadt bevorzugen ihr repräsentatives, verschlafenes, teures Stadttheater und denken über eine Zusammenlegung nach  ■   Von Hartmut Krug

Bei der Zusammenlegung der Bühnen wird wie immer nicht an die Kunst, sondern ans Geld gedacht

Frank Castorfs Berliner Volksbühne, das Theaterhaus Jena und die Freien Kammerspiele Magdeburg: Das sind Ostdeutschlands während oder nach der Wende entstandene Avantgardetheater. Wobei Avantgarde hier nicht nur die unbekannte künstlerische Form meint, sondern ebenso die Auseinandersetzung mit der nur scheinbar so bekannten Vergangenheit. Einfacher gesagt: Es geht um Geschichte, Identität und Selbsterkenntnis. Es geht um Fragen über die Zeit.

Zu DDR-Zeiten gab es für die Bühnen der Stadt Magdeburg wenig offene Fragen: Das Theaterkombinat mit mehreren Häusern, energisch im Sinne der Partei über Jahrzehnte von einem linientreuen Theatermann geführt, zerbröckelte erst zum Ende der DDR. Die Kammerspiele, Spielort des „Theaters für junge Zuschauer“, machten sich im August 1990 als „Freie Kammerspiele“ selbstständig. Das Haus war im Schatten der großen Bühne vernachlässigt und heruntergewirtschaftet worden, fast 75 Prozent der Belegschaft hatten gekündigt.

Eine Handvoll Schauspieler vom Schauspielstudio taten sich mit den verbliebenen Technikern zusammen, um als eine Art freie Gruppe das Haus selbst zu betreiben. Man hoffte auf Freiheit und Abenteuer, und man bekam von beidem etwas. Eine Leitung aber, die musste sein, forderte das Kulturministerium. Da der Berliner Regisseur Wolf Bunge gerade mit einer Inszenierung von Heiner Müllers „Auftrag“ in Magdeburg Aufsehen erregt und Kontroversen hervorgerufen hatte, auch eine Sommertheater-Inszenierung von Erdmanns „Selbstmörder“ mit den Schauspielstudio-Mitgliedern hatte alle Beteiligten angeregt, wählte man ihn zum neuen Leiter. Seit dem 1. 8. 1990 besitzt die Stadt Magdeburg damit zwei voneinander unabhängige Theater.

Damit tut sie sich heute schwer. Nicht zum ersten Mal will man das Rad der Geschichte zurückdrehen, will das schwerfällige Stadttheater und die beweglichen Freien Kammerspiele wieder zu einem Theater zusammenführen: Aus zwei mach eins. Dabei wird, wie immer, wenn es in Deutschland um Theaterstrukturen geht, nicht über die Kunst geredet, sondern von Geld und Sparwünschen gesprochen. Wobei allerdings die Wiederherstellung alter Theaterstrukturen das neue Theater mit seinen anderen Inhalten und Formen wieder zum alten Theater machen könnte. Ein Nebeneffekt, vielleicht von manchem beabsichtigt.

Denn ein repräsentatives Theater sind die Freien Kammerspiele nicht, wenn auch eines, das überregional beachtet wird. Ein Theater für die Turnschuhgeneration allein aber auch nicht, sondern eine Art kulturelles Zentrum für alle Generationen: mit Konzerten und Filmabenden, mit Theater für Kinder und Jugendliche, aber auch mit ihnen, und mit nachdenklichem, bitter ironischem, geschichtsbewusstem Theater für alle.

Sieben Jahre lang hat eine verschworen erscheinende Truppe mit Bunge und den Regisseuren Hermann Schein, Klaus Noack und Axel Richter in einem maroden Theatergebäude aufregendes Theater gemacht. Der Spielplan war immer anspruchsvoll: mit Müller und Ibsen, Schiller und Goethe, Brecht und Beckett verfuhr man so, wie es die eigenen Fragen und nicht die fertigen Stücke verlangten.

Zugleich kamen in Magdeburg so viele Ur- und Erstaufführungen lebender Autoren heraus wie wohl nirgends sonst. Und die Spektakel, zweitägige Veranstaltungen mit mehreren Aufführungen nebst Rahmenprogrammen zu einem Thema, oder die großartigen Sommertheateraufführungen, mit denen die Kammerspiele in die Stadt hinaus gingen, an der Elbe, im Hafen oder im Stadium spielten, sie machten die Bühne überregional bekannt.

Wobei das die Stadtpolitiker, von denen sich nur wenige in die Kammerspiele verirrten, eher argwöhnisch zu machen scheint: Ruhe soll sein. Wie im großen, repräsentativen Theater der Landeshauptstadt, in das man nach einem Brand im Jahr 1990 für den Wiederaufbau statt veranschlagter 30 Millionen immerhin 130 Millionen gesteckt hat. Weshalb sich die Politiker heute schwer tun, dem Dreispartenhaus sein (u.a. in einem Saal mit 700 Plätzen) fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit spielendes Schauspiel fortzunehmen.

Dass ein selbstständiges kleines Schauspiel wie die freien Kammerspiele mit seinen höchsten 300 Plätzen in einer Stadt wie Magdeburg, die trotz einer Viertelmillion Einwohner immer mit Publikumssorgen für Theater zu kämpfen hat, völlig ausreicht, wird ignoriert. Weil auch der Deutsche Bühnenverein noch immer an den „Schlachtschiffen“ seines Imperiums, an den Mehrspartenhäusern, wieder alle gesellschaftliche Entwicklung festhält.

Wolf Bunge hat 1997 versucht, der künstlerischen Stagnation in seinem Haus durch die Trennung von den Regisseuren der ersten Jahre entgegen zu arbeiten. Trotz Armin Petras, Ulrich Greb oder Christina Emig-Könnig, die nun gastweise hier inszenieren, ist das Tal allerdings noch nicht durchschritten. Wobei das große Stadttheater seit seiner Wiedereröffnung im neuen alten Haus noch überhaupt nicht von sich reden gemacht hat. Beide Magdeburger Theater finden ihr Publikum vor allem bei den jungen Leuten, die einen mit Musicals, die anderen mit Experimenten.

Kulturdezernent Koch hat aus den Diskussionen einer städtischen Theater-AG ein Papier erstellt, das dem Oberbürgermeister Vorschläge für eine neue Theaterstruktur macht. Zwei eigenständige Theater soll es geben, eines für Musiktheater und Tanz und eines für Schauspiel, dazu eine zentrale Verwaltung. Da die Verträge von Wolf Bunge und Max K. Hoffmann, seinem Intendantenkollegen vom großen Haus, ebenso wie die Theaterverträge mit dem Land im Jahr 2001 auslaufen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, eine neue Theaterkonzeption zu diskutieren, die nicht die alte sein kann.

Doch schon wurden, wegen der Wahl, Diskussion und Abstimmung der Stadtverordneten verschoben. Schon wird wieder von einem einzigen großen Mehrspartentheater gesprochen – und die Theaterform der Zukunft, die kleinen, beweglichen, innovativen Kammerspiele, drohen auf der Sparstrecke zu bleiben. Das wäre das Schlimmste, was Magdeburg passieren könnte. Unter ökonomischen und künstlerischen Gesichtspunken. Die Kammerspiele machen Theater, das weh tut, und sie gehen auch dorthin, wo es weh tut.

In die Industriebrachen, in die leeren Räume der aufgelösten Maschinenfabrik Sket, oder nach Olvenstedt, wo Straßenkriege zwischen rechten und linken Jugendlichen ein Todesopfer forderten. Hier spielt man „Olvenstedt probiert's“, eine kabarettistische Kult-Serie, die alle zwei Monate aktuell und neu sich mit dem Theater und dem Leben auseinandersetzt. Würden die Freien Kammerspiele zum einzigen Sprechtheater in Magdeburg, dann müssten sie natürlich auch auf ein anderes, repräsentationswilligeres Publikum offen zugehen. Und das Städtische Große Theater könnte sich aufs Musiktheater konzentrieren (und damit seine bisher eher magere Qualität erhöhen).

Im Oktober will die Stadtverordnetenversammlung über die Zukunft ihrer beiden Theater entscheiden. Ob mit einer Strukturänderung wirklich Geld gespart werden kann, ist dabei bisher gar nicht genau untersucht worden. Dass zwei getrennte Theater (eines für Musik-, das andere für Schauspieltheater) mit jeweils eigenständigen Profilen für die Stadt notwendig und auch nur in dieser Form überlebensfähig sind, das zeigt nicht nur der Blick nach Brandenburg.

Welche Identität wollen die Politiker ihrer Landeshauptstadt geben, das ist nun die Frage: Kaiserstadt Ottos, Universitätsstadt oder Kulturstadt. Oder alles zugleich. Eine Landeshauptstadt als Dienstleistungszentrum für Stadt und Land braucht dringend eine Theaterkonzeption, die einen langen Atem besitzt. Und ein Schauspiel, das in die Stadt hineinwirkt und aus ihr herausstrahlt. Das tun bisher nur die Freien Kammerspiele, das letzte, unfreiwillige Theaterkind der DDR. Ein Kind, das in der neuen Zeit schon lange angekommen ist, weil es die alte stets mitbedenkt.

Die nächste Premiere an den Freien Kammerspielen Magdeburg findet am 1. 10. um 20 Uhr in der Theaterfabrik Mittagstraße statt: Sascha Bunge inszeniert Wladimir Sorokins „Hochzeitsreise“