Der Rundumnässeschutz

Standort Deutschland (2): In der Stadt Crailsheim in Baden-Württemberg sind Arbeitsplätze keine Mangelware. Es sind die Höschenwindeln, die junge Familien nach Kreuzberg ziehen lassen  ■    Von Thomas Sakschewski

In Kreuzberg sind die Häuser sauber, die Gärten gepflegt und die Nachbarn zuvorkommend. In Kreuzberg gibt es keine Hinterhöfe, keinen Dönerimbiss und keine Hundehaufen. Kinder spielen auf den verkehrsberuhigten Straßen. Sie wohnen hinter den blickdichten Hecken in zwanzig Jahre alten Eigenheimen. Garantie ab Hersteller und schmaler Gartenstreifen. Auf den Terrassen stehen Gartenmöbel aus Teakholz und Bambussträucher in roten Tonkübeln. Autos mit fremden Kennzeichen werden von den Küchenfenstern aus beobachtet, und über die Zäune hinweg werden Tipps zur Maulwurfbekämpfung ausgetauscht. Kreuzberg ist ein Bezirk von Crailsheim, einer Stadt am nordöstlichen Zipfel von Baden-Württemberg, dort, wo Franken und Schwaben um das höhere Bruttosozialprodukt wetteifern.

„In den letzten zwanzig Jahren sind in Kreuzberg knapp 10.000 Einwohner angesiedelt worden“, beschreibt Bürgermeister Josef Klug das größte Wohngebiet in Crailsheim. Wie die Jahresringe eines Baumes werden die Häuser jünger, je weiter man sich von der Hauptverkehrsstraße entfernt. Vom letzten Bauabschnitt in Kreuzberg blickt man über Felder und Wiesen. Die meisten Kreuzberger sind Neu-Crailsheimer, denn die Stadt auf halbem Weg zwischen Heilbronn und Nürnberg ist allein in den letzten 15 Jahren um fast 8.000 Einwohner gewachsen. Für eine Stadt mit heute gerade einmal 32.000 Seelen ein enormer Zuwachs!

Zumeist junge Familien ziehen in die Stadt, weil sie hier Arbeit gefunden haben, wie Franz Kasimir, in Personalunion Leiter des Amtes für Kultur, Öffentlichkeitsarbeit und Wirtschaftsförderung, bestätigt. „Wir haben ja hier unsere Arbeitsplätze. Wir haben also 15.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, und viele wohnen auch außerhalb Crailsheims. Wenn sie sehen, dass sie hier günstig Wohnungen mieten oder kaufen können, überlegen sie sich schon, nach Crailsheim zu ziehen, dann haben sie es nicht so weit zum Arbeitsplatz.“ Und Arbeitsplätze sind in Crailsheim keine Mangelware: Die örtlichen Gewerbe- und Industrieunternehmen florieren. Lebensmittel und Maschinenbau, mittelständische und internationale Firmen haben sich in mehreren Gewerbe- und Industriegebieten angesiedelt. Vor den Werkstoren der Firma Bürger warten LKWs auf Bestückung mit Maultaschen, Spätzle und Königsberger Klopsen. Der Parkplatz der Bosch-Werke ist so ordentlich bepflanzt wie andernorts nicht einmal die Grünanlage, und vor der Großschlachterei von Südwestfleisch, in der täglich hunderte von Rindern und Schweinen in handliche Stücke zerlegt werden, duften nur die nahen Felder.

Der größte Arbeitgeber in Crailsheim jedoch ist die Firma Procter & Gamble. Franz Kasimir, der mit dem Aufgabenfeld Wirtschaftsförderung noch am wenigsten Schwierigkeiten hat, kann sich noch heute freuen, „dass wir diese Firma vor 20 Jahren an Land ziehen konnten. Die hat ganz klein begonnen, mit 160 Arbeitsplätzen.“ Heute beschäftigt Procter & Gamble im Werk Crailsheim knapp 1.500 Arbeitnehmer. „Hier schafft das halbe Oberland“, heißt es. Im europaweit größten Werk des amerikanischen Multis werden Höschenwindeln, Damenbinden und Slipeinlagen produziert.

Procter & Gamble in Deutschland? Das gleicht einem Marshallplan zur hygienischen Umerziehung der Wirtschaftswunderdeutschen. 1960 wurde die deutsche Niederlassung mit nur fünf Mitarbeitern gegründet. Heute arbeiten rund 9.000 Frauen und Männer unter dem „P & G“-Logo. Gleich zwei generische Markennamen gehören zur Produktpalette. Pampers sind ein Synonym für Höschenwindeln, und Tempos stehen für Papiertaschentücher. Doch das sind nicht die einzigen Artikel des Unternehmens in Deutschland. Punica, Lenor, Wick oder Ellen Betrix – The care company.

Die Werkshalle von Procter & Gamble in Crailsheim ist so sauber und ordentlich wie eine Krankenhausküche. Die Maschinen glänzen. Der Estrich wirkt wie poliert. Damit das auch so bleibt, hebt der Personalleiter bei einer Führung durch das Unternehmen mit einer alltäglichen Geste einen Schnipsel Vliesstoff vom Boden auf und verstaut ihn in seiner Hosentasche. Mülleimer, wie sie in anderen Fabrikhallen an jeder Ecke stehen, sind hier nicht notwendig. Etwas später warnt eine Maschine mit Sirenengeheul. Eine Störung! Eine zerdrückte Packung Damenbinden hat das Transportband gestoppt. Ruhig zieht er die Packung heraus, und die Sirene erstirbt. Die Box ist zu groß, um sie in die Hosentasche zu stecken. Also trägt er den Produktionsausschuss in der Hand bis zu seinem Büro. In den Gängen des Verwaltungstraktes haben die Mitglieder der großen Procter & Gamble-Familie ihre Privatfotos aufgehängt. Babyfotos sind da natürlich, denn hier werden Höschenwindeln hergestellt. Die Mitarbeiter bei Procter & Gamble sind auch Teilhaber des Unternehmens. Das schafft Vertrauen, wie der Personalmanager des Werkes Crailsheim, Ulrich Kugler, meint. „Das heißt, wir beteiligen sie am Unternehmenserfolg zum einen durch ein Paket an Aktienoptionen, zum anderen durch einen Aktienkaufplan, an dem momentan über 98 Prozent der Belegschaft teilnehmen.“ Um acht Prozent stieg im letzten Jahr der Unternehmensgewinn. Das steigert das Engagement der Mitarbeiter, genauso wie die Fenster, die in alle Bürotüren eingelassen sind. Weil man doch so ohne zu stören von außen sehen könne, ob ein Kollege für ein Gespräch bereit sei, meint Ulrich Kugler.

Wie Tempos für Papiertaschentücher so ist die Kreisstadt Schwäbisch-Hall der generische Begriff für ein Deutschlandbild, wie es als Kulisse für Disney World in Florida oder Tokio dient. Doch mit den Postkartenansichten der Stadt, auf deren Steine man bauen kann, ist das zuletzt schnell gewachsene Crailsheim nicht zu vergleichen. Bis hierher sind die Imagineers – die Chefdesigner der Walt-Disney-Welten – nicht gekommen.

Von „einer Märchenarchitektur“ spricht Bürgermeister Josef Klug, wenn er die „anderen Städte“ beschreibt, „die mehr an Sehenswürdigkeiten haben, aber nicht diese wirtschaftliche Entwicklung“. Anstelle einer Märchenarchitektur findet man in Crailsheim nur ein prosaisches Stadtbild. Von dem verträumten Städtchen mit winkligen Gassen ist kaum etwas erhalten geblieben. Nur wenige Einzelbauwerke haben die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges überstanden. Die Reste der Stadtmauer wurden geschleift und dienen als Schneise für die Hauptverkehrsstraße. Funktional plante der damalige Gemeinderat auch in der Innenstadt. Neue Verwaltungsgebäude, neue Wohnbauten und natürlich neue Straßen, wie zum Beispiel die Lange Straße. Die frühere Durchgangsstraße wurde erst vor einigen Jahren für den Verkehr gesperrt. Bis heute ist sie ein Reizthema in Crailsheim. Entsprechend scharf reagiert Bürgermeister Josef Klug auf Nachfragen. „Diese Straße war früher eine Bundesstraße, eine Durchgangsstraße mit 17.000 bis 18.000 Fahrzeugen pro Tag. Hier ist keine Maus ungeschoren von einer Straßenseite zur anderen gekommen.“ Heute kann man die Lange Straße ohne Gefahr für Leib und Leben überqueren, aber wer macht das schon? So richtig einladend ist die Atmosphäre in der Einkaufsstraße von Crailsheim nicht. Entlang einer geraden Straßenflucht stehen graugesichtige Gebäude, und mit Läden wie „Häberle – Stoffe und Kurzwaren“, „Knauer Garni – Weinstube, Café und Bäckerei“ oder dem „Aussteuerparadies“ von Oechsle wird Einkaufen nicht wirklich zum Erlebnis. Weil die Crailsheimer in den Megamärkten am Stadtrand ihre Einkaufswagen vollpacken, hat der Gemeinderat eine „Gestaltungsoffensive“ beschlossen. Das heißt in Crailsheim, sich Architekturstudenten der Fachhochschule Biberach einzuladen. Die sollen Ideen entwickeln für die paar hundert Meter Fußgängerzone.

Aber ohne Märchenarchitektur, mit schmucklosen Bauten aus der Nachkriegszeit fällt eine offensive Gestaltung schwer, schließlich wächst Crailsheim nicht wegen Kopfsteinpflaster und Fachwerkromantik, sondern wegen so Prosaischem wie Vliesstoff und Schweinehälften. Da muss man ganz schön tief in der Geschichte graben, um etwas Identitätsstiftendes hervorzuzaubern. Die „Horaffen“ sind der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Reingeschmeckten und die Alt-Crailsheimer einigen können. Umso besser, dass man dieses Stück Stadtgeschichte auch essen kann. Das süße, W-förmige Gebäck hat seinen Ursprung in einer Legende aus dem Jahre 1379. Damals wurde Crailsheim von den Reichsstädten Dinkelsbühl, Rothenburg und Schwäbisch-Hall belagert. Nach Monaten der Belagerung waren Belagerer wie Belagerte gleichermaßen am Ende ihrer Kräfte. Die Bürgermeisterin besann sich einer List, indem sie die letzten Reste an Mehl und Zucker zusammenkratzte, um daraus Horaffen zu backen. Diese Gebäckstücke warf sie von der Stadtmauer den Belagerern zu Füßen. Noch heute schenkt die Stadt jedem Schüler am Jahrestag der Belagerung einen Horaffen. Doch die Schwaben wären nicht die Schwaben, wenn sie nicht einen Gewinn aus der Tradition zögen. Ein besonders geschäftstüchtiger Konditor in Crailsheim hat sich deswegen seine Erfindung, die Crailsheimer Jagstmäuse, gleich vom Bundesamt patentieren lassen. Man weiß ja nie, wann man wieder belagert wird.