■  In über 150 Städten in Frankreich, Italien und der Schweiz waren die Bürger gestern aufgerufen, aufs Auto zu verzichten. Ziel des „autofreien Tages“, an dem sich im Jahr 2000 mehr Länder beteiligen sollen, ist es, auf alternative Verkehrsmittel aufmerksam zu machen
: Humanisierung der Innenstädte

„Ruheee!“ schreit der alte Mann quer über die vierspurige Rue la Fayette im 10. Pariser Arrondissement zu dem Fahrer, der schon zum dritten Mal auf seine Hupe drückt. „Ruhe! Heute ist autofreier Tag.“ Die Wartenden an der Bushaltestelle nicken ihm aufmunternd zu. „Recht hat er“, sagt eine Mutter mit Kind. „Quatsch“, brummelt ein Arbeiter dazwischen, „dieser ganze Tag ist doch Augenwischerei.“ Der gescholtene Autofahrer hupt weiter. Schließlich steht er jetzt schon drei Ampelphasen lang im Stau.

Ein paar Kilometer weiter westlich fährt gleichzeitig die grüne Umweltministerin Dominique Voynet, die vor einem Jahr die „journée sans voiture“ erfunden hat, im Elektroauto am Elysée-Palast vor. Elektroantrieb ist am 22. September, der fürderhin immer autofrei sein soll, erlaubt. Genauso wie Gasantrieb. Daneben sind Fahrräder, Skates und – vor allen Dingen – öffentliche Verkehrsmittel zur Benutzung empfohlen. Ein paar MinisterInnen sind zu der Ministerratssitzung geradelt. Zwei, die ein Tandem gewählt haben, drehen eine Ehrenrunde durch den mit Kieselsteinchen belegten Innenhof im Elysée-Palast.

Voynets Initiative zeigt, dass auch grüne MinisterInnen politische Erfolge haben können. Nach nur 34 Städten im vergangenen Jahr machten gestern, bei der zweiten Auflage des „autofreien Tages“, schon 66 Städte in Frankreich mit. Dazu ein paar Dutzend italienische Gemeinden sowie mehrere Schweizer Städte. Voynets Idee hat den doppelten Vorteil, sowohl nichts zu kosten als auch einen großen Effekt zu bringen. „Eine Frage von Pädagogik“, sagt die Umweltministerin denn auch den ganzen Tag in die Mikrofone. „Wir wollen die Bürger und die Politiker sensibilisieren.“

Das muss sie dazu sagen, denn wirklich autofrei ist an diesem Tag keine einzige französische Stadt. Erstens ist die Operation auf innenstädtische Zonen beschränkt, zweitens dürfen dort Taxis, Krankenwagen und andere Berufsfahrer weiter Gas geben, und drittens gibt es keine Strafen, sondern bloß höfliche Polizisten, die die nicht autorisierten FahrerInnen zum Parken bewegen.

Die Anfahrtswege zur Arbeit sind an diesem zweiten „autofreien Tag“ in Paris fast genauso verstopft wie üblich. Aber in der Innenstadt herrscht Beschaulichkeit wie sonst nur im Hochsommer oder sonntags morgens.

Die Franzosen, so hat Voynets Ministerium festgestellt, finden den Autoverkehr in den Städten zu 64 Prozent „unerträglich“. Auch die Sorge über den häufigen Smog und die Atembeschwerden im Hochsommer ist ein Thema. Bloß an den Gewohnheiten der Franzosen ändern diese Klagen und Ärgernisse fast nichts. Über die Hälfte von ihnen steigt für Kurzstrecken ins Auto. Die Humanisierung der französischen Innenstädte mit Verkehrspolitik in homöopathischen Dosen betreiben außer Voynet noch zahlreiche andere französische Politiker. Linke wie Rechte. Manche tun es mit Elektroauto- und Fahrradverleihen, andere mit dem Straßenbahnausbau, wieder andere mit der Anlage großer Fahrradwegnetze. Ein Exportartikel, der populär werden könnte.

Dorothea Hahn, Paris