■ Ein Jahr Rot-Grün (3): Die hochfliegenden grünen Pläne für mehr Bürgerrechte sind gescheitert – aus eigenem Versagen
: Schwarzbrot statt Sahnetorte

Abschottungsphobie der Bundesrepublik

Es war alles so schön geplant: Erst eine große Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, dann schnell ein Antidiskriminierungsgesetz hinterher; das alles angereichert mit ein wenig Atomausstieg und Ökosteuern – schon hätte die Bürgerrechts- und Umweltpartei unverwechselbare Duftmarken gesetzt.

Es kam anders. Kanzler Schröder drängte den grünen Umweltminister bei den Verhandlungen mit den Atombossen an den Katzentisch. Und bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts bekam der grüne Koalitionspartner zu Jahresbeginn heftig eins auf die Nase. Fazit: Rot-Grün ist an der Frage des Doppelpasses gescheitert. Und die Niederlage war der Anfang vom Ende der Grünen als relevante Stimme im bundesrepublikanischen Parteienspektrum.

Die Grünen waren vorgewarnt. Lasst es sein! So ein guter Rat unter Freunden vor Jahresfrist. Wer jetzt in eine Regierungskoalition geht, tut das zu einer Zeit, wo nichts für gesellschaftliche Reformen spricht – weder Stimmung noch Finanzen. Jeder konnte wissen: Die Reform des Staatsbürgerrechts wird neben der Homoehe auf Jahre so ziemlich die einzige grundlegende sein, die Aussicht auf Erfolg hat. Einzig deshalb, weil sie nichts kostet. Aber die Grünen haben viel gemein mit Drogenabhängigen. Kaum tauchte ein Fitzelchen Macht vor ihnen auf, griffen sie zu und schalteten den gesunden Menschenverstand aus. Machtbesoffen fehlte nun jedes Augenmaß. In einer völligen Fehleinschätzung, wozu parlamentarische Macht legitimiert, glaubten sie, den Bürgern eines ihrer Wunschkinder – den Doppelpass – aufzwingen zu können. Weder mühten sie sich um einen gesellschaftlichen Konsens, noch versuchten sie die Menschen vom Sinn des Unterfangens zu überzeugen. Ein Beleg nicht nur von zweifelhaftem Demokratieverständnis, sondern auch von Dummheit. Und zumindest Letzteres wird bestraft.

Die CDU mobilisierte mit einer Unterschriftenaktion fünf Millionen Bürger gegen den Doppelpass: So viel soziale Bewegung ist in der Geschichte der Bundesrepublik selten. Bei der Landtagswahl am 7. Februar in Hessen erhielt Rot-Grün folgerichtig die Quittung. Die CDU siegte, und Rot-Grün verlor die Mehrheit im Bundesrat – wegen des Doppelpasses. Es war der Anfang einer Serie von deftigen Niederlagen, die zielstrebig auf eine Große Koalition hinzuzusteuern scheint.

Von nun an gaben die Grünen ein Bild des Jammers ab – entzaubert, gedemütigt, unwählbar. Innenminister Otto Schily (SPD) übernahm auch bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts die alleinige Regie. Die grünen Mitstreiter wurden auf die hinteren Ränge verwiesen. Unvergesslich bleiben die verzweifelten Auftritte der Fraktionssprecherin Kerstin Müller in diesen Tagen. Noch eine Spur hyperventilierter als üblich redete sie irgendetwas vom Doppelpass als „grünes Essential“. Am Ende lag ein Gesetzentwurf auf dem Tisch, der entrümpelt war von grüner Ideologie und weitgehend einem FDP-Entwurf folgte.

beendet

Der Imageschaden ist gewaltig. Wer Sahnetorte verspricht, aber nur Schwarzbrot liefert, der darf sich nicht wundern, wenn sich die Kundschaft anderweitig orientiert. Aber das Dilemma der Grünen reicht tiefer. Ihnen fehlt es nicht nur an politischem Instinkt, sondern auch an jeglichem Talent, dem Publikum die kleinen, aber wichtigen Erfolge zu verkaufen. Eine Folge der Fixierung auf die großen Würfe. Das ist bedauerlich, denn in Wirklichkeit hat Rot-Grün in der Ausländer- und Migrationspolitik gar nicht so wenig erreicht, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Die am 1. Januar 2000 in Kraft tretende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ist auch ohne generelle Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft ein Quantensprung für die Bundesrepublik. Denn: Das Gesetz erweitert den Kreis derjenigen, die in Zukunft einen Anspruch auf Einbürgerung haben, und leitet gleichzeitig einen Paradigmenwechsel ein.

Rot-Grün hat die jahrelange Abschottungsphobie der Bundesrepublik beendet. Zugewanderte, Zuwandernde und Schutz Suchende werden nicht mehr wie in der Ära Helmut Kohl vornehmlich als Belastung und Bedrohung gesehen. Beispiel Polizeiliche Kriminalstatistik: Anders als unter dem ehemaligen Innenminister Manfred Kanther wird nicht mehr die Gefahr ausländischer Krimineller beschworen und in den Vordergrund gerückt. Ein langjähriges Feindbild hat damit ausgedient.

Auch der Versuch, die Diskussion um die in der Tat sehr hohen Zuwanderungsraten zu versachlichen, verdient Anerkennung. Neuerdings werden die Bürger regelmäßig darauf hingewiesen, dass es zwar Probleme gibt, der hohen Zuwanderung aber auch eine hohe Abwanderung gegenübersteht.

Bei der Integration der größten Einwanderergruppe, der Türken, könnte die Bundesregierung Erfolge vermelden. Selten hatte eine Bundesregierung in der Türkei eine solch gute Presse wie die augenblickliche. Der Besuch von Außenminister Joschka Fischer in Ankara, sein dort angekündigter Kurswechsel der Bundesregierung in der Frage um eine künftige EU-Mitgliedschaft der Türkei – all das hat gewaltige Rückwirkungen auf die türkische Gemeinschaft in Deutschland. Sie fühlt sich erstmals seit langer Zeit ein wenig mehr als akzeptierter Teil dieser Gesellschaft. Die regelmäßigen Treffen, die Fischer mit den wichtigsten türkischen Interessenverbänden nach dem Streit über die Soforthilfe für die Opfer der Erdbebenopfer anregte, werden ein Übriges dazu beitragen. Auch in der Asylpolitik müsste sich die rot-grüne Koalition nicht verstecken, gäbe es da nicht die hoch gesteckten Erwartungen, an denen die Grünen als Oppositionspartei kräftig mitwirkten. Aber es war allen klar, dass in der Asylpolitik kein entscheidender Kurswechsel zu erwarten ist – zum Beispiel die Wiedereinführung des 1993 unter tatkräftiger Mithilfe der SPD abgeschafften Grundrechts auf Asyl.

Rot-Grün hat die

Aber dort, wo Grüne etwas zu melden haben, im Auswärtigen Amt (AA) zum Beispiel, tut sich doch etwas. Am 7. September legte das AA den aktuellen Bericht „über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei“ vor. Es ist ein Pilotprojekt für eine neue Offenheit in der rot-grünen Außen- und Menschenrechtspolitik. Denn zum ersten Mal hat das Auswärtige Amt die Erkenntnisse von Menschenrechtsorganisationen in Deutschland und der Türkei in ihre Recherchen einbezogen, darunter amnesty international, Pro Asyl und der Niedersächsische Flüchtlingsrat.

Das bedeutet natürlich noch nicht das Ende der umstrittenen Abschiebungen, aber zumindest wird das Auswärtige Amt künftig differenzierte Lageberichte vorlegen, die nicht dem primären Ziel untergeordnet sind: Wie werde ich die Leute möglichst schnell wieder los. Schließlich dienen die Lageberichte den zuständigen Gerichten und Ausländerbehörden als Entscheidungsgrundlage in Asylrechtsverfahren.

Genug des Lobes der Politik der kleinen Schritte. Kommen wir auf ein weiteres im Koalitionsvertrag festgeschriebenes Reformvorhaben zu sprechen: das Antidiskriminierungsgesetz. Ähnlich dem Doppelpass ist es ein Projekt grüner Befindlichkeit mit hohem symbolischem Wert. Zwar wird die Wirkung eines solchen Gesetzes von Experten bei der Abschaffung von Diskriminierung als gering eingeschätzt, aber das hat die Grünen noch nie gestört bei ihrem Versuch, per Gesetz eine gerechtere Welt zu erzwingen.

Die Grünen geben ein Bild des Jammers ab: entzaubert, gedemütigt, unwählbar!

Nur: Nach dem Flop mit dem Doppelpass traut sich niemand mehr Initiative zu. Vor allem keine Sozialdemokraten. Die haben im Moment andere Probleme, als ihren Mitgliedern im Ortsverein Castrop-Rauxel zu erklären, dass es an der Zeit wäre, alle Gesetze und Erlasse zu durchforsten, ob es darin Diskriminierungen für Migranten, Behinderte oder Homosexuelle gibt. „Grüne wollen Disco-Besitzer zwingen, nur noch Türken reinzulassen“, das wäre die Schlagzeile, die Rot-Grün bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen den endgültigen Todesstoß versetzen würde.

Weit wollte man mit dem Doppelpass springen. Der Sturz war tief. An weitere Reformen der Bürgerrechte ist nun auf Jahre nicht mehr zu denken. Enttäuschen kann das nur jene, die frühzeitige Warnungen, nicht den Doppelpass, sondern die Reform des Staatsbürgerrechts in den Mittelpunkt zu rücken, für Bedenkenträgerei hielten. Eine Lektion mussten die Grünen inzwischen begreifen: Arroganz der Macht wird von den Bürgern schnell bestraft. Eberhard Seidel