„Wie kleine Buben“

■  Narzisstische Kränkungen, Rollenspiele, Sündenböcke: Die Auseinandersetzung Oskar Lafontaines mit Gerhard Schröder sieht aus wie ein klassischer Bruderzwist. Was dabei fehlt, ist die Durcharbeitung. Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer

taz: Was ist Oskar Lafontaine eigentlich: ein Verratener oder ein Verräter?

Wolfgang Schmidbauer: Weder noch. Er hält einfach das Schweigegebot nach außen nicht ein, das in allen Gruppen üblich ist. Aber darum ist er kein Verräter. Er spricht ja auch keine Geheimnisse aus. Sondern durchbricht nur einen Schulterschluss, der politisch üblich ist.

Und warum macht er das?

Weil er sich verraten fühlt. Er glaubt, die Partei, der er geholfen hat den Sieg zu erringen, sei ihm in den Rücken gefallen. Auf einer narzisstischen Ebene fühlt er sich im Stich gelassen, vor allem von den führenden Männern. Und kommt mit den im Politgeschäft üblichen Kränkungen nicht mehr zurecht.

Kann eine solche narzisstische Kränkung durch Schreiben überwunden werden?

Im Prinzip schon. In seinem Fall allerdings nicht. Sein Buch enthält noch keine Verarbeitung. Es ist bloß die Darstellung einer Kränkung, aus dem frischen Affekt heraus geschrieben.

Wie sähe eine richtige Verarbeitung aus?

Sie fände auf einem höheren literarischen Niveau statt. Lafontaine würde versuchen, mehr zu verstehen. Er müsste sich in seine Gegenspieler einfühlen, statt eine parteiische Darstellung zu liefern, in der er seine eigene Verstrickung und Verantwortung überhaupt nicht sieht. Im Augenblick ist er einfach ein gekränkter Autor, der sich überhaupt nicht fragt, welche Fehler er selbst gemacht hat. Eine narzisstische Regression, die in der Politik nicht selten ist, aber meistens vertuscht wird. Ein anderer Fall wäre Sauter, der gerade seinen langjährigen Freund Stoiber heftig entwertet hat, nachdem er sich von diesem entwertet und bedroht gefühlt hatte. Plötzlich gehen Vernunft, Reife und das Wissen verloren, dass die Politik ein hartes Geschäft ist, in dem man auch einstecken und über sich bestimmen lassen muss, ohne beleidigt weggehen zu können. Und erwachsene, hoch gebildete, hochintelligente Männer reagieren wie kleine Buben.

Welche Bedeutung hat da die Öffentlichkeit?

Die Öffentlichkeit fördert das sehr. Das Rampenlicht treibt ja keineswegs nur das Gute im Menschen hervor, sondern auch Eitelkeiten und Rollenspiele und Selbstüberschätzungen. Jetzt ist Lafontaine zum Sündenbock geworden. An ihm wird allerdings nur festgemacht, was ganz viele Politiker ausmacht. Andere kennen Lafontaines Gefühle genauso, unterdrücken sie aber in sich. Jeder, der in einem höheren Amt steht, entwertet und schlecht gemacht wird, hat wahrscheinlich hin und wieder Lust, alles hinzuschmeißen. Aber keiner will das zugeben. Stellvertretend wird darum Lafontaine heftig entwertet. Und niemand bemüht sich um Verständnis.

Zunächst entwertet Lafontaine selbst ja lautstark ganz viele Kollegen. Vorher hat er lautstark geschwiegen. Warum?

Das gehört zusammen. Im März, als er sein Amt niederlegte, suchte er Schutz. Man muss sich daran erinnern, dass Lafontaine 1990 niedergestochen wurde. Das war mit Sicherheit eine Traumatisierung für ihn. Natürlich kann diese Traumatisierung nicht alles erklären. Aber soweit man weiß, nimmt in Folge einer Traumatisierung die Fähigkeit, Belastungen und Kränkungen psychisch zu verarbeiten, ab. Jemand, der früher schon eitel und überzeugt davon war, der Größte zu sein, kann dieses Selbstgefühl kaum noch mit Humor und Selbstdistanz brechen.

Und zieht sich zurück?

Der Rückzug aus der Situation, die er nicht mehr zu ertragen glaubt, ist typisch für Traumatisierte. Das Vermeiden von Situationen, die an die Kränkungen erinnern.

Aber jetzt erinnert er selbst daran.

Er geht noch einmal in die Öffentlichkeit, klar. Aber auf eine Weise, die ihn schützt. Mit einem Buch sucht man die Öffentlichkeit und entzieht sich ihr zugleich. Ein Buch ist abgerundet. Es steht für sich. Jeder kann sich damit beschäftigen. Aber Lafontaine wird wohl darauf verzichten, darüber mit Parteigenossen und Journalisten allzu viel zu diskutieren.

Darum macht Lafontaine Exklusivverträge und veröffentlicht nur im Springer-Verlag?

Da ist er Profi. Moralische Entrüstung finde ich unangebracht. Politiker sind gut bezahlte Showstars, und Lafontaine verhält sich wie ein solcher.

Zieht bei aller Professionalität das Buch nicht doch weitere Kränkungen nach sich?

Traumatisierte sind oft sehr empfindlich für eigene Kränkungen, aber völlig unempfindlich gegenüber den Kränkungen anderer. Sie denken, man wird doch wohl noch die Wahrheit sagen dürfen, und merken gar nicht, wie sehr sie jemanden verletzen. Ich vermute, Lafontaine ist überrascht, dass sein Buch andere beleidigt.

Sind die Reaktionen der Gekränkten wieder kränkend?

Das weiß ich nicht. In der abendländischen Kultur gilt ja auch: Viel Feind, viel Ehr.

Schröder und Lafontaine waren einst gute Freunde.

Die beiden waren Freunde, ja. Und ich bin überzeugt davon, dass Lafontaines Umarmung am Tag der Wahl Schröders authentisch gewesen ist. Das sind ja die heftigsten Kränkungen: wenn man wirklich geglaubt hat, befreundet zu sein. Die beiden waren wie Brüder. Mich erinnert das an einen klassischen Bruderzwist. Wobei es für Lafontaine eine große Kränkung gewesen sein muss, dass Schröder in der Medienöffentlichkeit besser ankam, wo er sich selbst doch als den besseren Politiker sah. Vom Ersten zum Zweiten degradiert zu werden, ist für jeden schlimm. Wer nicht traumatisiert ist, hält das vielleicht gerade noch aus. Jemand, der vorbelastet ist und erschöpft, nicht.

Bislang antwortet Schröder nicht. Warum?

Das hat mit seiner Grandiosität zu tun. Mir hätte besser gefallen, er würde nach seinen eigenen Fehlern fragen und sich dafür entschuldigen. Aber er hat sich entschlossen, ein solches Zugeständnis seinen Parteimitgliedern und sich selbst zu ersparen. Nun will er ganz der Gute sein sein und alles Böse auf Lafontaine lasten lassen. Schröder hat seine politische Rolle aufrechterhalten. Insofern ist er der Sieger.

Sein Verhalten ist geschickt?

Ja.

Und für Lafontaine besonders ärgerlich?

Ich denke, Lafontaine kennt Schröder gut genug, um damit gerechnet zu haben.

Inzwischen hat Lafontaine zweimal die Öffentlichkeit geschockt. Was passiert mit ihm, wenn der Trubel um sein Buch vorbei ist?

Natürlich wird schnell vergessen. Aber Politiker, die mit einem solchen Makel bedeckt sind, kehren selten zurück. Meistens führen sie nach einer solche Affäre ein zurückgezogenes, hoch dotiertes Leben als politische Berater.

Ist es glaubwürdig, dass Lafontaine sich nun ganz seiner Familie widmen will?

Ja. Mit Fahnenflucht hat das nichts zu tun. Es ist ja überhaupt nicht tapfer, an einem gut bezahlten Amt festzuhalten. Darum ist einer, der sich von der Macht und dem Glanz der Öffentlichkeit zurückzieht, auch nicht feige.

Aber das Buch ist doch ein neuer Versuch, sich sehr viel Öffentlichkeit zu verschaffen.

Stimmt. Und es hat etwas Kurzfristiges und Autodestruktives.

Bringt das Buch dann überhaupt die Verarbeitung seines Traumas voran?

Wer ein Trauma hat, kann mit der Zeit besser oder schlechter damit fertig werden. Lafontaine hat sich erst überfordert. Dann kam der Zusammenbruch. Das Buch ist ein Nachspiel des Zusammenbruchs. Daraus kann Lafontaine Lehren ziehen und sich weiter entwickeln. Oder resignieren und verbittern. Momentan steckt er noch zu stark in dem Modell von Kränkung und Gegenkränkung. Das ist kein Modus der Verarbeitung. Aber die kann ja noch kommen. Auch durch die heftige Ablehnung, die seine Abrechnung erfährt.

Was ist Ihre Prognose?

Ich halte Lafontaine für einen sehr intelligenten Mann, der sicher schon vieles ausgehalten und durchgemacht hat. Wenn er das jetzt auch aushält und genau anschaut, wird er etwas daraus entwickeln. Ich bin gespannt darauf, wer in zwei Jahren Oskar Lafontaine ist.

Und Schröder?

Schröder hat schon aus der Sache gelernt und dafür gesorgt, der Alleinherrscher der SPD zu sein.

Und keine solchen Brüder mehr an seine Seite zu stellen.

Genau. Die braucht er ja auch nicht mehr. Interview: Monika Goetsch