Der Literaturnobelpreisträger 1999, Günter Grass, liest am Sonntag im Thalia Theater  ■ Von Hans-Jost Weyandt

Aus gegebenem Anlass stellt sich die Frage: Was hat eigentlich Lübeck, was Hamburg nicht hat? Der Anlass der Frage hat einen Vokal und drei Silben: Mann, Brandt, Grass. Diese drei bilden sozusagen den Paradesturm, der Hamburg kurz vor Ende dieses Jahrhunderts in der Nobelpreispartie gegen Lübeck 0:3 zurückliegen lässt. Und wenn nicht in den nächsten Tagen ein Wunder geschieht, wird es dabei bleiben. Obwohl, auch ein Wunder kann eigentlich nichts mehr ändern. Denn was wären schon Nobelpreise für Physik, Chemie oder Was-gibt-es-da-denn-noch-Wirtschaftswissenschaften, von Hamburger Jungs in letzter Jahrhundertminute eingefahren, gegen die Lübecker Literaten- und Friedenspracht von Thomas, Willy und Günter? Eben. Zumal wir vor der Frage, was Lübeck hat und Hamburg nicht, kapitulieren müssen.

Umso besser wissen wir von drei Vorzügen zu berichten, die Günter Grass in Lübeck vergeblich gesucht hat und die ihm Hamburg bietet: eine vertrauenswürdige zahnmedizinische Betreuung, eine erstklassige publizistische Verbindung und eine bürgerlich-repräsentative Anstalt sozialdemokratischer Moral. Die Kenntnis des ersten Vorzugs, der uns den „guten Menschen“ (Ana Maria Mutate), von der FAZ zum „Nationaldenkmal“ erhöht, sogleich als eine „ungeheuer sympathische Erscheinung“ (Milo Dor) näher bringt, verdanken wir der „seit Jahrzehnten fälligen“ (Volker Schlöndorff) Stockholmer Entscheidung. Denn mit dem Hinweis auf einen Zahnarzttermin in Hamburg verabschiedete sich der laut einer dänischen Zeitung „geborenen Literaturpreisträger“ von der Lübecker Weltpresse, als der „kraftvollste und vielseitigste lebende Autor“ (John Irving) nach der „erfreulichen“ (Hans Magnus Enzensberger) Wahl, über die sich Hans-Georg Gadamer allerdings „nicht überrascht“ zeigte, obwohl Jürgen Habermas sie „anti-zyklisch“ nannte, in einer ersten Stellungnahme seiner „großen Genugtuung“ Ausdruck verliehen hatte.

Allein für diesen Schlenker ins Private und dessen schmerzliche Seiten kann Hamburg dem „Autor, der seine Landsleute oftmals bis zur Weißglut reizt“ (La Republicca), eine kleines Dankeschön nicht verweigern. Blitzte nicht in der scheinbar beiläufigen Erwähnung des Zahnarzttermins etwas von jener großen Grass-Gabe auf, die Joachim Kaiser in ein hymnisches Orakel verpackte: der „politische Mahner“ sei ein „auf allen Lebensstufen charakteristisch fruchtbarer Künstler“? Geben wir's ruhig einmal zu: Die „engagierte Persönlichkeit“ (Tahar Ben Jaloun; Marokko), die sich stets „ins Soziale einmischt“ (Dario Fo) und dessen lyrische Sprache zwar „barbarisch“, aber zugleich „mitfühlend“ (Andrew Motion) sein kann, hat völlig unverhofft unseren schmerzlich wankenden Glauben in die Hamburger Zahnklempner-Zunft ein wenig gefestigt. Aber das ist natürlich eine Kleinigkeit.

Und vollkommen leuchten die alttestamentarischen Metaphern ein, mit denen die schwedische Akademie ihre „leicht gefallene“ (Akademie-Sekretär Horace Engdahl) Entscheidung begründete: „In der öffentlichen Debatte seines Heimatlandes“, heißt es dort, „ist er Kraftquell und Fels des Ärgernisses.“ Und damit sind wir bei Hamburgs Vorzug Numero zwo, der Woche. In seinem liebsten Presseorgan hat das „Gewissen der Nation“ (New York Times), das „nie das Gewissen der Nation sein wollte“ (dpa), jetzt gewissen- und genossenhaft zu jenen felsquellklaren Worten gefunden, die etliche Zeitgenossen in seinen letzten Werken vermissten. Moses Bissinger musste nur leicht mit dem Stab an ihm klopfen, schon kam der Bannstrahl gegen Lafontaine knüppeldick gesprudelt. So reden Männer halt, die ihr Soll erfüllt haben. Die formale Wucht jedenfalls, mit der hier der „bedeutendste zeitgenössische deutsche Schriftsteller“ (Gerhard Schröder) einer durchaus leicht verständlichen Aussage („Halt's Maul!“) durch gleich dreifache Variation („Trink Deinen Rotwein!“ „Fahr in die Ferien!“ „Such Dir eine sinnvolle Beschäftigung!" Nachdruck verleiht, weckt die durchaus berechtigte Hoffnung, dass der „bedeutendste europäische Schriftsteller der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Salman Rushdie) auch in der ersten Hälfte des nächsten Bedeutsames beitragen könnte.

Zunächst aber wird – erstmals nach der Nobelnachricht – der Ausgezeichnete öffentlich auftreten, im Thalia Theater, Hamburgs Vorzug Nummer drei. Grass hätte sich wohl kaum einen besseren Ort wünschen können als Jürgen Flimms Haus, das bereits vor zwei Jahren den feierlichen Rahmen abgab für seinen 70. Geburtstag. Dort liest der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1999 aus seinem jüngsten Werk Mein Jahrhundert vor. Es soll erst im Vortrag seine verborgenen Qualitäten richtig entfalten.

Sonntag, 11 Uhr, Thalia Theater, Karten 8 bis 40 Mark