Des Königs schwimmende Identitäten

■ Nach dem Horror: Der vom Bestseller-Schreiben ermüdete Stephen King scheitert mit „Atlantis“ bei dem Versuch, den großen Roman der Woodstock-Generation zu schreiben

Stephen King verschiebt den Horror – nur leider nicht in die Geschichte, sondern in tote Winkel.

Das Ereignis hat einem dann doch ein Grinsen abgenötigt: Im Juni dieses Jahres meldeten amerikanische Zeitungen, dass der Horrorautor Stephen King beim Joggen von einem Auto erfasst und schwer verletzt wurde. Der Fahrer des Autos hatte die Kontrolle über den Wagen verloren, als er seinen Hund bändigen wollte. Kings Unfall schien wie die Erfüllung eines bösen Wunschdenkens – das Grauen, so dachte man, hatte seinen eigenen Agenten erwischt und beschädigt. Der Autor überlebte. Dass King vorerst keinen Horrorthriller mehr schreiben wollte, hatte er indes schon lange vorher beschlossen.

Warum? Als Stephen King fünfzig wurde, wollte er mehr – nicht weniger als DEN amerikanischen Roman. Die Verkaufszahlen von Kings Horrorthrillern waren während der letzten Jahre gesunken, obwohl der Mann, der seine Bücher einst als „literarisches Äquivalent zu Hamburgern und Fritten“ bezeichnet hatte, seinen Platz als zuverlässiger Bestseller-Lieferant verteidigen konnte. Mit „Atlantis“, so wurde dem 52-Jährigen unterstellt, verfolge King nur eine Marketingstrategie. Er suche das nachlassende Interesse an sich zu beleben und wolle den Kreis seiner Leser vergrößern.

Anpeilen wolle King, eigenem Bekunden zufolge, vor allem anspruchsvollere Leser, dazu jene Frauen, die eher zur luftigeren Anne Rice als zu King greifen, und – die Anhänger des Spannungskinos. Auf der anderen Seite des Marketingvorwurfs stellt sich jedoch eine einfache Frage: Was fängt ein Erfolgsautor an, der sich von seinem jahrzehntelangen Erfolg gelangweilt fühlt? Die Möglichkeit, dass er andere Formen und Genres ausprobiert, scheint doch keineswegs absurd.

An die fünfzig Bücher hat King bisher geschrieben, „Atlantis“ hält er für sein wichtigstes. Der Titel des Möchtegern-Romans bezieht sich auf einen Song von Donovan: Je älter man werde, desto mehr fühle man die einstige Süße des Lieds von seiner albernen Dummheit aufgesogen. So wird „Atlantis“ zur Metapher einer Utopie von Unschuld. Dass dieser Roman keinen wirklichen Romanhelden kennt, aber viele Nichthelden hat, passt dazu und rettet doch nichts. Ganz am Anfang steht ein Motto aus „Easy Rider“: „Wir haben's vermasselt.“ Der normale, alltägliche Wahnsinn ist Kings Anliegen, sogar der politische. Drei Viertel von „Atlantis“ sind in den Sechzigerjahren angesiedelt. Der Roman ist um das Trauma des Vietnamkriegs zentriert und zudem für King ungewöhnlich romantisch dekoriert. American history, american pie – so weit, so gut. Wer Stephen King das Recht zugesteht, ein neues literarisches Genre auszuprobieren, für den bleibt nur interessant, wie der Autor dieses Experiment bewältigt.

Nun, er bewältigt es nicht. „Atlantis“ ist ein schrecklich umfänglicher Roman – das hat Kings neues Werk mit den schönen Horrorschwarten gemein. Flower Power, Woodstock, Vietnam, Campus und Provinz, Gewalt und Schrecken und ihre Folgen. Oder besser ihre Kingsche Leere . Symbolschwangere Metamorphosen wie die des Vietnamveteranen Willie, schwimmende Identitäten wie des Kleinstadtmädchens Carol, das zur militanten Studentin wird, symbolisches Nichtsehen und Wiedersehen ... Vom unschuldigen Jahr 1960 bis in die Gegenwart hinein reicht Kings neues Unternehmen. „Atlantis“ sollte der Roman einer Generation werden, der Baby-Boomer-Generation von Stephen King. Nur ist es selten von Vorteil, wenn ein Autor wie King epische Breite mit Tiefe, Thema oder Poetik verwechselt. Denn die drei Letzteren definieren einen Roman – und die Sprache.

Die Stärke des alten King war es, eine Geschichte so zu erzählen, dass man nicht das Licht ausmachen wollte. In der Schauer- und Horrorliteratur geht es um Effekte, bestenfalls um subtile Effekte, und die Gleichnishaftigkeit von Schuld und Bestrafung: etwas getan zu haben, was man nicht hätte tun sollte, und dafür eine grausige Rechnung präsentiert zu bekommen. Der Wechsel vom Horror zum klassischen Roman erfordert, eine Geschichte so zu erzählen, dass die Sprache nicht um der Effekte willen da ist, sondern einer Geschichte dient, oder sich selbst.

Das bedenkend, liest man einen alten Stephen King, wenn man den neuen Stephen King liest – nur ohne hard horror. Kings Sprache ist in ihrer routinierten Geschmeidigkeit keine Überraschung; seine breite Geschichte und sein zahlreiches Personal hat King nicht im Griff. In fünf disparate Teile zerfällt, was ein Roman hätte werden sollen. Der gelungenste Part ist bezeichnenderweise der am dichtesten an der Horrorliteratur bleibende. Dass der hard horror fehlt, macht seine konstituierende Wichtigkeit bei King erst spürbar. Das Grauen des Horrors stieß dem Kingschen Helden zu und trieb so die Story voran, während der Schrecken in „Atlantis“ nur behauptet wird.

Das Problem eines Panoramabildes ist, dass man eigentlich nichts sieht. Das Problem eines technisch schlecht ausgeführten Panoramabildes ist sein Dilettantismus. Unter der Übermacht historischer Oberfläche bietet „Atlantis“ dennoch Rudimente der Zwischenwelt aus Bedrohung und Einsamkeit. Was King hier anstellt, ist eine Verschiebung des Horrors – nur leider nicht in die Geschichte, sondern in tote Winkel.

Doch das letzte Kapitel trägt ein hoffnungsvolles Motto: „Na los, du Saftsack, komm heim“.

Anke Westphal

Stephen King: „Atlantis“. Übersetzt von Peter Robert. Heyne Verlag. 591 Seiten. 44 DM