Themenpark der besseren Wirklichkeiten

■ Die Verdopplung des Landes führt zu Zerwürfnissen: Julian Barnes erdenkt in „England, England“ ein wunderschönes Duplikat des Königreichs. Die Originale sind nicht amüsiert

Eines enttäuschte an Julian Barnes' wunderbarem Eifersuchtsdrama „Als sie mich noch nicht kannte“: das Finale. Seite um Seite konnte man verfolgen, wie Julian Barnes zwar nicht aufdringlich, aber sehr deutlich eine Katastrophe vorbereitete – und rechnete genau deshalb noch mit einer Überraschung. Doch leider ging alles wie angekündigt aus.

Auch in Julian Barnes' neuem Roman hapert es am Schluss. Bis dahin aber erzählt Barnes eine sehr schöne und sehr komische Geschichte, die um nichts Geringeres als die Wahrheit kreist. „England, England“, handelt davon, wie England einen Doppelgänger erhielt: Als nämlich der Tycoon Sir Jack Pitman beschloss, auf der Isle of Wight alle touristisch relevanten Elemente Englands anzusiedeln. Die Isle of Wight erspart Besuchern nicht nur aufwendige Reisen durch England, sie ist ausschließlich mit positiv bewerteten englischen Attraktionen besetzt – mit strohgedeckten Cottages, Doppeldeckerbussen, der National Gallery, 80 Sorten warmen Biers und Schauspielern, die als Oscar Wilde oder Dr. Samuel Johnson durch die Straßen laufen.

Nach und nach übernimmt „England, England“, wie Pitman den Klon getauft hat, die Rolle des Originals. Nicht nur die Royal Family siedelt gegen Honorar über, auch Manchester United trägt seine Heimspiele im Wembley-Stadion von „England, England“ aus. Ersatzmannschaften spielen dann im Old Trafford die Partie mit dem gleichen Spielausgang nach. Über das neue England wacht neben seinem Erfinder ein Stab von Beratern. Zu ihnen gehört Martha Cochrane, eine knapp 40-jährige Frau, durchsetzungsfähig und gescheit, abgeklärt und nicht auf Anhieb sympathisch. Marthas Status innerhalb der Entwicklungsabteilung ist der einer offiziellen Zynikerin; ihre Aufgabe besteht darin, Jack Pitman zu widersprechen und das Konzept des englischen Themenparks zu kommentieren.

Mit Martha setzt Barnes eine Figur ein, die einen desillusionierten und vernünftigen Blick auf die Welt wirft, wie man ihn nur selten in Büchern findet. Und obwohl er sie in eine Liebesgeschichte verwickelt, lässt Barnes sie nicht einfach über ihr Verhältnis zu Männern nachdenken, sondern darüber, wie das Leben erträglicher wird – weitaus mehr also, als Frauengestalten im Allgemeinen sonst zugestanden wird.

Die aber auch nie mit Marthas Problemen konfrontiert sind: Nachdem „England, England“ zunächst perfekt funktioniert, gerät es nach einer Weile außer Kontrolle. Das liegt an den Schauspielern, die inzwischen vollkommen in ihren Rollen aufgegangen sind. Die Schäfer und Fischer sind längst Schäfer und Fischer geworden, aber auch Robin Hood und seine fröhliche Schar haben sich mit ihrem Dasein so gut arrangiert, dass sie die gestellte Verpflegung ablehnen und selbst auf Jagd gehen. Dieser Vorfall läutet einen skurrilen Krieg ein, in dem Robin Hood samt Gesellen gegen Schauspieler antreten, die Spezialkommandoangehörige spielen – noch, denn bei den zuschauenden Touristen kommt der Sturm auf Robins Höhle gut an.

In seinen Betrachtungen über Wirklichkeit und Wahrheit zeigt sich Julian Barnes in diesem Buch ernster als bisher. Dass die Komik jedoch gleichberechtigt bleibt, beweist der Satz, durch den Martha von den Entgleisungen im Sherwood Forest erfährt: „Im Tierpark fehlt Dingle, der Wollochse.“

Carola Rönneburg

Julian Barnes: „England, England“. Kiepenheuer und Witsch 1999. 345 Seiten. 45 DM