Vom Liebesdoppelfreitod

Im Thalia Theater gastiert das Bunraku-Ensemble Osaka – eine kurze Einführung in das traditionelle japanische Puppenspiel  ■ Von Olaf Möller

Dieser Tage hat man eine der sehr seltenen Gelegenheiten, hierzulande eine Bunraku-Aufführung zu erleben, dargeboten obendrein von einem Spitzenensemble aus Osaka, der alten Heimat dieser sehr speziellen bürgerlich-japanischen Art der Unterhaltung. Bunraku ist neben No und Kabuki die dritte bedeutende klassische Theaterform Japans – und die außerhalb des Landes am wenigsten bekannte. Wahrscheinlich liegts daran, dass Bunraku eine Spielart des Puppentheaters ist – aber was für eine!

Das fängt schon mit den Puppen selbst an: Sie sind etwa 80 bis 110 Zentimeter hoch, erstaunlich vielseitig beweglich und müssen deshalb von meist drei Spielern geführt werden. Der „Hauptspieler“ einer jeden Puppe regiert den Kopf und den rechten Arm, seine beiden „Gefolgsleute“ den linken Arm beziehungsweise Beine und Füße. Das mündet in einem sehr feinen, unglaublich präzisen Puppenspiel, das absolut nichts mit hiesigem Kasperl-Gezappel gemein hat.

Die Puppenspieler sind während der gesamten Aufführung gut sichtbar, sagen jedoch kein Wort. Zum Besten gegeben wird die Geschichte von einem Erzähler, der neben der Bühne sitzt, den Text vor sich auf einem Bücherständer. Wobei „Erzähler“ zu kurz gegriffen ist: Er spricht, entfernt vergleichbar mit einem Bänkelsänger, nicht nur mit jeweils veränderter Stimme sämtliche Figuren, sondern interpretiert auch die „Kommentarpassagen“ des Stücks. Ähnlich komplex ist die Rolle der Musik. Neben dem Erzähler sitzt ein Shamisen-Spieler, dessen Klänge irgendwo zwischen musikalischer Untermalung und Atmosphärengestaltung schweben und außerdem die Stimmenarbeit des Erzählers unterstützen. So kann es passieren, dass der Erzähler grummelnd und grollend ein Unwetter evoziert, das dann vom Shamisen-Spieler verstärkt wird.

Der Effekt ist verblüffend. Man nimmt die drei Bestandteile der Aufführung getrennt wahr. Was zur Entstehungsgeschichte passt. Das Bunraku nennt man manchmal korrekter ayatsui joruri: ayatsui bedeutet Puppenspiel, joruri bezieht sich auf die balladenartige Vor-tragsform. Erste Berichte über Puppentheater stammen aus dem 11. Jahrhundert: Eine Gruppe von Puppenspielern ließ sich angeblich auf der Insel Awaji nieder und erfand dort die bis heute praktizierte Form des Puppenspiels. Unabhängig davon entwickelte sich im 15. Jahrhundert die Tradition des joruri. Blinde Mönche zogen durch die Lande und verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Vortragen von Episoden aus dem Heike monogatari, einem klassischen Epos des 13. Jahrhunderts. Dabei begleiteten sie sich selbst auf der biwa, einer Lautenart. Als man Mitte des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts diese beiden Kunstformen zusammenführte, wurde die biwa durch die Shamisen, ein anderes Lauteninstrument, ersetzt.

Osaka gilt als Ursprungsort des Bunraku. Im feudalen Japan war es die Stadt der Händler, den Emporkömmlingen der Krieger-Gesellschaft. Die Händler standen im Klassensystem zwar auf der untersten Stufe, entwickelten sich aber über die Jahrzehnte zu den wahren Machthabern im Land – und sei es nur, weil viele Samurai Schulden bei ihnen hatten. Als Unterlinge hatten die Händler keinen Zugang zum Theater des (Schwert-)Adels – sprich dem No –, und so mussten sie sich ihre eigenen Theaterformen schaffen: Kabuki und eben Bunraku. Die Schriftzeichen, mit denen dieser Name im Japanischen geschrieben wird, bringen die Sache wunderbar auf den Punkt: Sie bedeuten „Kultur“ und „Unterhaltung“.

Viele Bunraku-Stücke behandeln, mal mehr, mal weniger explizit, die soziale Schizophrenie des feudalen Klassensystems. Beliebt waren vor allem die shinjumono, das heißt Geschichten vom Liebesdoppelfreitod. Das nun im Thalia Theater zu sehende Stück Sonezaki shinju – geschrieben von Monzaemon Chikamatsu (1653-1724), dem „Shakespeare Japans“, uraufgeführt im Jahre 1703 im Takemoto-Theater von Osaka – gilt als eines der ersten Beispiele für dieses Genre. Hier scheitern der junge Kaufmann Tokubei und seine Geisha/Geliebte Ohatsu an der Schlechtigkeit der Händlerschicht. Und eine Bestie, wer nicht aus tiefsten Herzen heult, wenn das in dieser Welt so unglückliche Paar seinen letzten Gang – den hanamichi („Blumenweg“) – geht, um sich gemeinsam gegenseitig das Leben zu nehmen, damit sie sich bald in einer anderen, besseren Welt wiedersehen.

Fr, 15., Sa, 16. Oktober, 20 Uhr, Thalia Theater