Einkaufszettel und Notizbuchseiten

■ Mit wenig Mitteln und namhaften Fellows startet in Weimar ein Nietzsche-Kolleg

Cerisy-la-Salle, im Jahr 1972. Im Postscriptum zu seinem Nietzsche-Vortrag berichtet der französische Philosoph Jacques Derrida von seiner „stürmischen Begegnung mit einem Hermeneuten“. Dieser habe sich über den Umgang mit Nietzsches unveröffentlichten Schriften mokiert: „Sie werden gar noch die Rechnungen seiner Waschfrauen und derartigen Abfall wie 'ich hab meinen Schirm vergessen‘ veröffentlichen.“

Nun wird Derrida selbst Fellow eines neuen Nietzsche-Kollegs in Weimar und kann dort seine niedergelegten Gedanken über vergessene Philosophen-Regenschirme weiterspinnen („jenes ungewöhnliche Objekt, das man nicht immer aus reinem Zufall neben einer Nähmaschine auf einem Kastrationstisch findet“). Ihm zur Seite wird man ab Anfang kommenden Jahres die Berliner Philologin Marie-Luise Haase finden – die berichtet von der baldigen Veröffentlichung aller Nietzsche-Inedita, computersimuliert und inbegriffen alle Einkaufszettel, Waschfrauenrechnungen und leeren Notizbuchseiten. „So wird es sein“, sagt Rüdiger Schmidt, Philosoph, Philologe und Angestellter der Stiftung Weimarer Klassik. Haase soll hier die Fortsetzung der unvollendeten Nietzsche-Gesamtausgabe von Mazzino Montinari vorstellen.

Sloterdijk und Habermas über Handschriften

Doch vor allem steht der Aufbau der Institution. An diesem Wochenende im Oktober wird man in Weimar erst mal feierlich das „Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik“ gründen. Ein Ort, an dem das Ereignis Nietzsche und seine Erforschung Hand in Hand gehen, so das ehrgeizige Projekt: „Ziel muss sein, dass Habermas und Sloterdijk hier gemeinsam über Nietzsches Handschriften sitzen“, so Rüdiger Schmidt. Eine „Factory für freie Geister“ wünscht er sich, halb Wissenschaftskolleg, halb Künstlerwerkstatt.

Hohe Ziele. Fragt sich nur, ob sein Haus das Jubeljahr 200 überhaupt übersteht. Denn so groß wie die Ansprüche, so gering sind die Mittel. Mit einer halben Stelle hat die Stiftung Weimarer Klassik ihren neuen Zögling ausgestattet, und die endet am 31. 12. 1999. Um die Finanzierung werde „noch gerungen“, so der Präsident der Stiftung, Jürgen Seifert, ausweichend. Aber das Kolleg solle jetzt erst mal laufen lernen. So läuft Rüdiger Schmidt auf seiner halben Stelle den Drittmitteln hinterher und träumt von einem Mäzen wie dem Deutsche-Bank-Vorstand Hilmar Kopper, der ihn mit den nötigen Peanuts versorgt. „Unter diesen Umständen hätte ich das Kolleg gar nicht eröffnet“, kommentiert einer der einstigen Initiatoren des Projektes.

Auch an der Weimarer Bauhaus-Uni, wo man sich auf die zukünftigen Gastprofessoren freut, zeigt man sich zunehmend irritiert. Die Stiftung behandle das Kolleg mit seinem Hang zur Philosophie schon jetzt wie ein ungeliebtes Kind: „Die wollen anscheinend nur ihren Vergangenheitskult weiterpflegen.“ Also hofft man auf den Schipanski-Effekt: Die neue thüringische Wissenschafts- und Kulturministerin habe die Stiftung Weimarer Klassik aufgefordert, sich den Universitäten zu öffnen.

So kann eigentlich nur überraschen, was das kleine Kolleg trotzdem schon auf die Beine gestellt hat. Drei Fellows mit klingenden Namen für das Jahr 2000, von einer Schweizer Sponsorin mit 40.000 Mark ausgestattet: Gianni Vattimo, der italienische Postmoderne, Derrida und A.C. Danto – drei Ansätze, den „Willen zur Macht als Kunst“ zu denken. Das könnten „Ereignisse“ sein, „die Anschlussqualität schaffen“, hofft Weimars Shooting Star Joseph Vogl, Professor für künstliche Welten an der Bauhaus-Uni und als Kuratoriums-Mitglied spiritus rector des neuen Kollegs.

Hinzu kommen drei Tagungen und ein studentischer Workshop für das Jahr 2000 sowie ein renommierter Verlag, der ohne Zuschüsse die Beiträge verlegt und mit dem Band „Entdecken und Verraten“, herausgegeben von Andreas Schirmer und Rüdiger Schmidt, derzeit ein erstes Beispiel davon gibt. Und nicht zuletzt die Anbindung des Umfelds: Die Bauhaus-Uni mit ihren Philosophen und Künstlern, die großen Nietzsche-Archive mit den Bibliografen und Philologen.

Noch erinnert man sich in Weimar an den großen Mazzino Montinari, der hier in den Siebzigern mit seinem Fiat 500, die rechte Pobacke auf dem Beifahrersitz, Einzug hielt, Kinder zeugte und die erste vernünftige Nietzsche-Gesamtausgabe anschob. Rüdiger Schmidt will darauf seine „Factory für freie Geister“ aufbauen. Wenn er nicht vorher in Konkurs geht. Fritz von Klinggräff