Die Ermessensentscheidung

Er wollte heiraten und ging aufs Standesamt. Er wurde verhaftet und abgeschoben. Wie das Freiburger Regierungspräsidium verhinderte, dass der Kurde Ömer Polat und seine deutsche Freundin ein Paar wurden  ■   Von Ulrike Schnellbach

Ömer Polat könnte heute bereits verheiratet sein. Sükrü Polat müsste nicht mehr Bilder malen, auf denen er und sein Vater nebeneinander stehen. Und Dekan Traugott Schächtele hätte nicht dieses ungute Gefühl, einen Menschen „ans Messer geliefert zu haben“.

Dienstag vor zwei Wochen. Pünktlich um acht Uhr sind der Kurde Ömer Polat, 41, und seine deutsche Freundin, 27, auf dem Standesamt in Markdorf am Bodensee. Monate hatten sie gebraucht, um alle Voraussetzungen für die Hochzeit zu erfüllen: Sie hatten die notwendigen Papiere in der Türkei aufgetrieben; Ömer Polat hatte sich bei einer Bekannten in Markdorf polizeilich gemeldet; sie waren vom Standesamt Freiburg zum Standesamt Meersburg, wo Polats Freundin lebte, und schließlich nach Markdorf weiterverwiesen worden. Nun endlich schien alles in Ordnung. Das Standesamt in Meersburg hatte Ömer Polats Papiere geprüft und schriftlich für vollständig erklärt. Der Markdorfer Standesbeamte, Günther Ziemer, hatte bei der ersten Durchsicht der Dokumente ebenfalls bestätigt, dass nichts fehle. Das versicherte er auch am Dienstag morgen der Freundin und Asylhelferin des Paares, Gretel Kunze, 73, und kündigte an, dass die Trauung drei Tage später stattfinden könne.

Als die Brautleute wenig später vor ihm stehen, moniert der Standesbeamte, es fehle noch ein Dokument – eine beglaubigte Heiratsurkunde Polats mit seiner ersten Frau in der Türkei, die 1995 gestorben war. Die Sterbeurkunde liegt vor. Gretel Kunze, die mit dem Paar aufs Standesamt gekommen war, versucht mit dem Beamten zu diskutieren, ihn umzustimmen. Er habe doch gesagt, es sei alles da, sagt sie. Es hilft nichts. Ziemer sagt, dass es „eine Ermessensentscheidung“ sei, ob die Urkunde nötig ist oder nicht. Und seine Ermessensentscheidung ist, die Anmeldung der Eheschließung nicht vorzunehmen. Als Gretel Kunze gehen will und die Tür öffnet, stehen da zwei Männer in Zivil. „Polizei“, denkt sie und stellt sich schützend vor Ömer Polat. „Nur über meine Leiche“, sagt sie. „Es mag hysterisch klingen“, wird sie später sagen, „aber das habe ich gesagt. Und jetzt ermitteln sie gegen mich wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Der Widerstand nutzt nichts. Die Polizisten schieben die alte Frau beiseite und nehmen Ömer Polat fest.

Handschellen, Abtransport.

Um 16.15 Uhr wird Ömer Polat vom Stuttgarter Flughafen aus in die Türkei abgeschoben.

Der Standesbeamte sagt nach der Abschiebung, dass er den Termin niemandem mitgeteilt habe. Was er nicht sagt, ist, dass er bereits fünf Tage vor der Verhaftung das Regierungspräsidium wissen ließ, dass Polats Papiere nicht vollständig seien. Da hatte er den Brautleuten und Gretel Kunze bereits gesagt, dass alles in Ordnung sei. Seither sagt Standesbeamter Ziemer nichts mehr, zumindest nicht der Presse. Sein Dienstherr, der Markdorfer Bürgermeister, auch nicht.

Der zuständige Referatsleiter im Freiburger Regierungspräsidium bestätigt, dass die Behörde den Termin in Markdorf erfragt und sich „auf alle Eventualitäten vorbereitet“ hat. Genau genommen hat sie sich auf eine „Eventualität“ vorbereitet – die Verhaftung im Standesamt. Am 11. Oktober schrieb das Regierungspräsidium an das Verwaltungegericht Freiburg, dass die Abschiebung Polats für Dienstag, 12. Oktober, 16.45 Uhr, geplant sei. Für den Fall, dass Polats Anwalt einen Eilantrag dagegen stellen würde, lieferte das Rergierungspräsidium gleich die Argumentation, mit der das Gericht diesen ablehnen sollte. Es wurde abgelehnt.

Der Standesbeamte als Erfüllungsgehilfe der Abschiebebehörde? Das Regierungspräsidium als jagende Instanz, die nur auf einen Augenblick lauert, da der Gesuchte sich zeigt?

Eigentlich hätte das nicht passieren dürfen. Ömer Polat war vorsichtig. Seit vergangenem Frühjahr hielt er sich versteckt. Sein Antrag auf Asyl war gescheitert. Für den deutschen Staat war es kein hinreichender Grund, dass eines Tages Militärs in Ömer Polats Dorf kamen und ihn aufforderten, dem Staatsschutz als „Dorfschützer“ zu dienen. Nicht hinreichend, dass Polat sich weigerte und daraufhin mehrfach verhaftet und misshandelt wurde. Nicht hinreichend, dass sein Bruder mit der gleichen Verfolgungsgeschichte Asyl erhält.

1992 gelingt Ömer Polat die Flucht nach Deutschland. Für die Familie reicht das Geld nicht, um den Fluchthelfer zu bezahlen. Sie soll später nachkommen. Drei Jahre später stirbt seine Frau. Nach zähem Hin und Her mit den Behörden erhalten die beiden Söhne, Sükrü und Mehmet, ein Visum für Deutschland. Die beiden Töchter müssen in der Türkei zurückbleiben. Sie sind über 16 Jahre alt – zu alt für ein Visum.

Im Herbst 1998 wird Ömer Polats Asylantrag abgelehnt, ein Folgeantrag läuft beim Verwaltungsgericht Freiburg.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Behörden Ömer Polat abschieben würden. Im Frühjahr hatten sie es schon einmal versucht. Als sie ihn im Flüchtlingswohnheim abholen wollten, war er nicht zu Hause. Seitdem lebte er versteckt, aus Vorsicht getrennt von seinen Söhnen Sükrü und Mehmet, die beim Onkel untertauchten.

Dort stehen eines Morgens im Mai zwei Polizisten vor der Tür. Sie nehmen Mehmet in Handschellen mit und schieben ihn in die Türkei ab. Er ist gerade 17 geworden. Zwei Monate später will die Polizei auch den kleinen Bruder abholen. Doch die Freiburger Pflegefamilie, die Sükrü inzwischen versteckt, verhindert die Abschiebung.

„Salamitaktik“ sagt der evangelische Dekan Traugott Schächtele zu dem Vorgehen der Behörden. Erst ein Sohn, dann der Vater – und bald der zweite Sohn?

Zuletzt hatten Ömer Polat und Sükrü wegen der Heirat wieder Hoffnung geschöpft. Im Fall einer „unmittelbar bevorstehenden Eheschließung“ hätte das Regierungspräsidium eine Duldung aussprechen müssen.

Stattdessen die Abschiebung. „Eine bedenkliche Entwicklung“, sagt Dekan Schächtele: Wenn das Regierungspräsidium abgelehnte Asylbewerber im Standesamt aufgreife, mache es jede Heirat unmöglich. Zur Anmeldung der Ehe müssten schließlich beide Partner persönlich vorsprechen. Dieser Termin sei also, sagt Schächtele, und es klingt empört, geradezu „eine Vorladung zur Verhaftung“.

Dekan Schächtele ist noch aus einem anderen Grund empört. Hatte er doch aus einem Gespräch mit dem Vizepräsidenten des Regierungspräsidiums, Wilfried Kollnig, kurz zuvor die Sicherheit mitgenommen, dass die Behörde Ömer Polat im Standesamt nicht verhaften werde.

Dekan Schächtele fühlt sich getäuscht.

Ein Eindruck, der dem Freiburger Regierungspräsidenten, Sven von Ungern-Sternberg (CDU), äußerst unangenehm ist. Weil Vizepräsident Kollnig im Urlaub ist, muss der zuständige Referatsleiter die Sache mit der Absprache erklären. Dessen Andeutungen zufolge könnte Kollnig gegenüber Dekan Schächtele so etwas wie freies Geleit allenfalls für den Weg zum Standesamt zugesagt haben. Nicht jedoch – nach negativ verlaufener Prüfung der Papiere, versteht sich – wieder hinaus. Der Referatsleiter: „Wir haben ganz bewusst nicht vorher zugeschlagen.“

Dekan Schächtele könnte Zynismus sagen. Er sagt nur: „Diese spitzfindige Unterscheidung habe ich gedanklich nicht vollzogen.“ Da er Ömer Polat von dem „freien Geleit“ zum Standesamt erzählt hatte, fühlt sich Schächtele jetzt, als habe er ihn „ans Messer geliefert“.

Dicker Ledersessel, feudales Amtszimmer. Regierungspräsident Sven von Ungern-Sternberg sitzt an seiner Wirkungsstätte und sagt: „Ich kann mich ja nicht verhalten wie ein barocker Fürst.“ Und meint, er habe keinerlei Spielraum gehabt. Dass er die Abschiebung noch hätte stoppen können, als Ömer Polat am Dienstagmittag bereits auf dem Stuttgarter Flughafen war, sagt er nicht. Dabei versammelten sich eilig SPD- und Grünen-Stadträtinnen, Dekan Schächtele und ein weiterer Pfarrer, der SPD-Bundestagsabgeordnete Gernot Erler und eine Schar kurzfristig alarmierter Journalisten im Regierungspräsidium, um für Ömer Polat vorzusprechen. Der Regierungspräsident, der nicht im Hause ist, lässt die aufgeregte Gruppe erst einmal zwei Stunden warten. Dann lässt er telefonisch mit sich reden. Aber er greift nicht ein.

Minuten später kommt die Nachricht aus Stuttgart, dass Ömer Polat abgeschoben ist.

Rechtlich sei der Fall eindeutig gewesen, sagt Ungern-Sternberg später vor der Presse und beruft sich auf die rechtskräftige Ablehnung des Asylantrages. Aber war nicht mit der geplanten Heirat ein neuer Sachverhalt gegeben? Die Ehe habe nicht „unmittelbar“ bevorgestanden, sagt Ungern-Sternberg.

Der Regierungspräsident ist keiner, der als Hardliner bekannt wäre. „Ich bin nicht glücklich, wenn gemischte Gefühle zurückbleiben“, sagt er, und zieht seine Krawatte zurecht. Dann lehnt er sich vor: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob wir tricksen und Fallen stellen. Das kann sich der Staat nicht leisten.“ Und weil er weiß, dass dieser „Eindruck“ sich längst festgesetzt hat, sagt er noch, dass Ömer Polat, wenn er denn alle seine Papiere beisammenhabe, wieder einreisen könne.

Doch Ungern-Sternberg ist kein barocker Fürst. Und so müsste, selbst wenn Polat wieder einreisen dürfte, das Standesamt noch prüfen, ob eine „Scheinehe“ vorliegt. Eine Möglichkeit, die man im Regierungspräsidium ausdrücklich nicht ausschließen will. Und da sich der Standesbeamte bereits einmal von der besonders gründlichen Seite gezeigt hat, denkt Ömer Polats Anwalt Michael Moos bereits über Alternativen nach. Zum Beispiel darüber, dass Polat und seine Freundin in der Türkei heiraten könnten. Doch selbst dann, sagt der Anwalt, ist die Wiedereinreise nicht gesichert. Bevor die Botschaft Polat ein Visum erteilt, muss die Abschiebung befristet werden – und das kann wiederum nur das Regierungspräsidium.

Bei seiner Ankunft am Istanbuler Flughafen wurde Ömer Polat festgenommen und von türkischen Sicherheitsbeamten verhört. Danach wurde er freigelassen. Zunächst. In vielen Fällen – das belegen Dokumentationen von Menschenrechtsorganisationen – werden abgeschobene Kurden später in ihren Heimatdörfern erneut verhaftet und gefoltert. Vor allem solche, die sich wie Ömer Polat in Deutschland öffentlich für die Kurden eingesetzt haben.

Sükrü Polat erlebt die Freiburger Bürokratie – seit neuestem – anders. Nachdem seine Mitschüler den Regierungspräsidenten in einem Brief um eine Duldung für den 13-Jährigen gebeten haben; nachdem Journalisten neuerdings diese unangenehmen Fragen stellen; nachdem am Donnerstag 500 Menschen vor dem Freiburger Regierungspräsidium für Ömer und Sükrü Polat demonstriert haben – nach alledem hat sich Ungern-Sternberg „dazu durchgerungen“, dem Jungen eine Duldung zu erteilen. Wenigstens bis die Frage der Heirat geklärt ist. Wenn er will, dann hat Sven von Ungern-Sternberg eben doch einen Spielraum. Fast wie ein barocker Fürst.