„Wir haben uns doch abgeplackt“

Zwanzig Jahre waren die Rentner ruhig. Jetzt ließen auch sie sich zur Demo vors Brandenburger Tor bringen. Den wenigsten geht es ums Geld. Die Enttäuschung über Rot-Grün treibt sie auf die Straße    ■ Von Annette Rogalla

Berlin (taz) – Sicher, Geschenke gab es auch. Ein Stockschirm, groß genug für zwei und ein Käppi – wahlweise in weiß oder schwarz. Und ein Zehnmarkschein hat der Mann im Bus Otto Bastian auch noch in die Hand gedrückt – als Verzehrgeld. Das reicht für Bratwurst und Bier, „aber erst danach“. Schließlich ist Bastian nicht zum Würstchenessen nach Berlin gekommen.

Otto Bastian ist sauer und will demonstrieren. Mit beiden Händen stampft der 73-Jährige den Stock in den Asphalt. „Wer bei den Rentnern mit dem Sparen anfängt, zerstört die soziale Gerechtigkeit.“ Tok-tok-tok. Es könne doch nicht angehen, dass die Bundestagsabgeordneten den Rentern ans Portmonee gingen – und sich selbst die Diäten erhöhten. „Die sollen erstmal bei sich anfangen und zeigen, was Gerechtigkeit ist.“ Tok-tok. Nicht dass Otto Bastian darben müsste. „Mit 2.500 Mark – da kann ich ruhig sein“, aber sechzehn Jahre hat er auf die Ablösung von Helmut Kohl gewartet, „und jetzt zeigt sich, dass die Sozis nicht besser sind.“ Tok.

Aus Stade, Erfurt, Düsseldorf und Langenbelling sind die Busse in der Früh abgefahren. Am Nachmittagwogt ein Meer von Käppis und Regenschirmen am Brandenburger Tor. Stellenweise liegt der süß-schwere Duft von „Opium“ in der Luft. Auf der Bühne schmalzt das „Magdeburger Rock-'n'-Roll-Orchester“ von einem „Pfeil in deinem Herzen“. Zehntausend Renter sollen laut Reichsbund hier sein. Die Polizei zählt nur 4.000 Protestler. Einen Namen hat sich der Reichsbund als Berater in Rentnerfragen gemacht. Im Pressezelt kann niemand genau sagen, wann sie zum letzten Mal auf die Straße gegangen sind. War es 1979? Oder noch früher, Anfang der 60er, damals, als der Sozialverband Reichsbund die Dynamisierung der Kriegsrenten erstritten hat?

„Man muß immer wieder wie ein Tiger sein“, singt die junge Sängerin. Stimmt, sagt Marga Schön. Das Tigerbild könnte ihr Lebensmotto sein. Zäh hat sie sich durch ein langes Arbeitsleben gebissen. Mit 15 ging sie auf den Bauernhof, mit 60 verließ sie den Kuhstall. Dazwischen lagen 45 lange Jahre als Melkerin. Jetzt ist sie 61. Ihre Rente gibt nicht viel her: 1.123 Mark plus 600 Mark Witwenrente. „Viel leisten kann ich mir nicht, aber ich komme aus“, sagt Schön. Zur Demo ist sie mitgekommen, „aus Sympathie“ – und weil der Reichsbund ihr so gut beim Ausfüllen des Rentenantrags geholfen hat. Froh gelaunt hält Schön ein Schild hoch: „Rentenreform: ab 2001 müssen Rentner bei Rot über die Straße gehen“. Den wenigsten, die hier demonstrieren, geht es nur ums Geld. Viele wollen ihre Enttäuschung über zwölf Monate rot-grüne Regierung auf die Straße tragen.

Weil sie Schröder schon mal auf dem Marktplatz in Wolfsburg gesehen hat, hat Elisabeth Schulz ihn gewählt. Sie hat ganz einfach gehofft, dass die SPD von den Reichen nimmt und den Ärmeren gibt. Seitdem Schulz aber um das Sparpaket weiß, ist sie sicher, dem Falschen ihre Stimme gegeben zu haben. Sie hat nichts gegen das Sparen, „aber nicht in diesem Tempo. Die SPD macht alles zu krass.“ Sozialdemokratische Politik müsse ausgewogen sein, meint die 63jährige. „Warum führen sie nicht wieder eine Vermögensteuer ein?“ Momentan nehme die SPD aber nur von „den Kleinen“. Man könne noch nicht einmal in Ruhe krank sein. Als Elisabeth Schulz kürzlich wegen einer Knieoperation ins Krankenhaus musste, durfte sie nur zehn Tage bleiben. Bei der ersten Operation vor zwei Jahren lag sie noch drei Wochen. „Das kann man nicht mit medizinischem Fortschritt erklären“, erbost sich die ehemalige VW-Arbeiterin. Das sei nur dem Sparwillen der Regierung geschuldet. Elisabeth Schulz fürchtet, bald könne es wieder heißen: „Weil du arm bist, musst du früher sterben.“ Das will sie nicht zulassen. „Wir haben iuns doch abgeplackt.“