Präsent und potent

Ein Mordprozess vor 25 Jahren. Angeklagt: zwei Frauen. Das „Lesbische“ war die eigentliche Beschuldigung. Aus dem Protest gegen diesen Prozess erwuchs die Lesbenbewegung. Wurden Frauenkneipen gegründet. Oder Frauenverlage wie „Orlanda“. Eine Geburtstagsrede von Viola Roggenkamp

Lesbisch. – Das Wort! Mal so eben auszusprechen ist es nicht. Lassen wir die schweren Geschichten um Gesellschaft und Diskriminierung für diesen Moment beiseite und hören wir einfach hin: lesbisch. Das hört sich so nass an, so glitschig und rutschig. In dem Wort geht hörbar etwas vor. Etwas, was Frauen unangenehm sein kann. Auch peinlich. Vielleicht unanständig und überhaupt nicht einfach zu benennen. Wie ist, was rutscht und glitscht, festzuhalten, zu bändigen?

Schwerlich. In dem Wort steckt hörbar Dynamik. Es beginnt mit einer sonoren Stimmbandschwingung im Fließlaut l aufsteigend zum scharfen s und entlädt sich dann über die kleine b-Schwelle durch die Stimmritze in einem feucht zischenden isch. LllllesssSSSSbischschsch. Ein spürbar sexuelles Wort. Laut und deutlich. Der weibliche Orgasmus mit Konsonanten und Vokalen unüberhörbar wiedergegeben, präsent und potent.

Um 1970 herum glaubte zumindest in Europa jedes junge Mädchen, das sich in eine Frau verliebte, dass es gerade dabei war, etwas zu erfinden. Und sofort wusste sie, dass sie diese atemberaubende Erfindung geheim halten musste. Oft sogar vor der Frau, in die sie sich verliebt hatte.

Eines Morgens stand auf einmal das Wort in der Bild – in riesigen Buchstaben: Lesbisch. Der Mord der lesbischen Frauen: Die Dänin Judy Andersen und die Deutsche Marion Ihns, die Ehefrau eines Gemüsehändlers, lieben sich. Marion Ihns führt ein durchschnittliches Eheleben, es ist langweilig, sie hat keinen Orgasmus, wenn ihr Mann mit ihr „den Geschlechtsverkehr vollzieht“ – so steht es da –, und manchmal quält er sie. Sie verliebt sich in eine Frau. In die Kranführerin Judy Andersen. Die beiden Frauen planen die Ermordung des Mannes. Judy Andersen tritt in Dänemark in Kontakt mit einem Mörder. Die Frauen bezahlen den Täter, der dem Gemüsehändler Wolfgang Ihns mit einer Axt in dessen Kartoffelkeller den Kopf spaltet.

Der Mordprozess findet statt in Itzehoe, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Presse und Frauenbewegung im Zuschauerraum. Der Richter lässt während der Verhandlung fotografieren. Wie bei Schauprozessen der Nazis. In der Justizgeschichte der Bundesrepublik ist das einmalig und bis heute innerhalb der Strafprozessordnung verboten. Dennoch kann es hier gegenüber den beiden Frauen geschehen, ohne dass jemand einschreitet. Der Richter hat es ja ausdrücklich gestattet, geradezu anempfohlen, zur exemplarischen Abschreckung die beiden Frauen abzubilden.

Marion Ihns im grünen Wollkleid, selbst gehäkelt in der Untersuchungshaft. Judy Andersen in schwarzen Hosen und weißem Oberhemd, eine kleine, rothaarige Frau mit vielen Sommersprossen. Zwischen den Frauen die Verteidiger, durchschnittliche Pflichtverteidiger. Sie verhehlen nicht ihren Abscheu gegenüber dem Lesbischen, aber sie müssen ja hier nur ihre Pflicht tun, mehr nicht.

Judy Andersen ist die böse Lesbierin. Marion Ihns wird zu der verführten Frau, von der die Presse immer wieder zu berichten weiß, wie nett sie wieder ihrem Verteidiger zugelächelt hat. Aufklärungsserien in der Presse: Was sind Lesbierinnen – historisch, biologisch, kriminologisch? Welche Fotos soll man nehmen? In seriösen Blättern erscheinen Darstellungen von Sappho. In der Bild: zwei sich anlächelnde Frauen mit Dauerwelle und in Negligees wie aus der Wäscheabteilung vom Otto-Versand. Darunter Erläuterungen „dieser krankhaften Entwicklung“.

Bei den Lübecker Nachrichten: die Lokalredakteurin und ich, ihre Volontärin, ihre Geliebte. In der Bild-Zeitung jeden Morgen die Worte „lesbisch“ und „Lesbierinnen. Wir hatten es beide noch nie so groß gedruckt gesehen, überall, an jedem Zeitungskiosk in der Stadt, an den Litfaßsäulen, in den Einkaufstaschen von Frauen, vor der Nase lesender Männer, es kam über den Fernschreiber von dpa, in der Wochenzeitung Zeit, im Stern, im Spiegel, in der FAZ. Unfassbar! Welche Freude. So ernst der Anlass auch war.

Der Film „Mädchen in Uniform“ kam wieder in die Kinos – man las jetzt das Wort so oft: lesbisch. Romy Schneider und Lilli Palmer. Lilli Palmer küsst Romy Schneider. Romy als Romeo und Lilli Palmer, die große Schauspielerin, zeigt, wie groß die Sehnsucht einer Frau, einer richtigen Frau, sein kann nach dem Begehren der anderen Frau, wie gern sie sich hinreißen lässt von dem heißen Begehren dieser jungen Frau nach ihr. Die Suche nach prominenten Lesbierinnen in der Presse: Elisabeth Flickenschildt? Marianne Hoppe? Ist Lilli Palmer lesbisch? Die Boulevardzeitungen fragen es, ohne eine Antwort haben zu wollen. Die Frage ist presserechtlich zulässig, die Behauptung wäre es nicht. Ist Inge Meysel lesbisch? Oder Alice Schwarzer? Und was war eigentlich mit Soraya?

Wöchentliche Lesbenaktionen vor der Eingangstür von Karstadt in der Hamburger Innenstadt, immer zur Feierabendzeit. Frauen stehen da mit einem Pappschild auf der Brust, darauf steht – man muss etwas näher herantreten, um es entziffern zu können. Sind sie obdachlos? Sammeln sie für Biafra? Nein. „Ich bin lesbisch“ steht auf dem Pappschild. Während des „Lesbenprozesses“ kommt es zum Eklat. Mitten in der Verhandlung erheben sich Frauen in den Zuschauerreihen, ziehen ihre Jacken aus. Auf ihren T-Shirts steht: „Ich bin lesbisch.“ Der Richter lässt den Saal räumen.

Der Prozess gegen dieses Frauenpaar wurde zum Auftakt der Lesbenbewegung in Westdeutschland. Und in der DDR? Gab es dort überhaupt Lesben? Im Westen gab es: lila Latzhosen, keine Büstenhalter, flache Schuhe, die Ablehnung aller Schminke. Die Idee war, dass eine Frau sich für eine lesbische Frau überhaupt nicht mehr anzustrengen braucht.

Was für eine Idee! Die Lesbe hatte für alles Verständnis. Für die Orgasmusschwierigkeiten der Heterofrauen. Für ihre Not beim Kampf um freie Abtreibung – zu achtzig Prozent gingen Lesben dafür auf die Straße. Eine Lesbe war gütig, verständnisvoll, zärtlich, mutig, tapfer, ritterlich, versorgend, allwissend, nie fordernd und schon gar nicht penetrant. Sie war der ideale Partner einer jeden Frau, besser als jeder Mann, sie war wie eine Mutter als Traumvater. Die erste Frauenkneipe bundesweit in Hamburg: Endlich Frauen unter sich am Tresen beim Bier. Oberstes Gebot: Keine ansprechen, keine von der Seite anmachen. Das hatte frau seit Generationen in der Männerwelt aushalten müssen, kaum dass sie eine Kneipe betrat. Hier in der Frauenkneipe will sie endlich Ruhe finden. – Aber wie soll eine Frau eine Frau kennenlernen, wenn sie sie nicht von der Seite ansprechen darf?

Außerdem gab es nichts zu essen in Frauenkneipen, und wenn, war es ganz schlecht gekocht und ganz lieblos zubereitet. Das gehörte sich so. Eine gut, womöglich sehr gut kochende Lesbe wäre zu weiblich, womöglich zu fraulich gewesen. Meist hatte die Dienst habende Frauenkneipenfrau vergessen einzukaufen: „Du, tut mir leid, aber mir geht's heute nicht so gut. Also, das war ... echt, jetzt noch Grünkernlinge einweichen, das ist für mich irgendwie nicht mehr drin gewesen oder so.“ Eigentlich konnten Frauen für Frauen überhaupt nicht kochen. Welche Frau, zudem lesbische Frau, wollte das auch erwarten von der anderen Frau. Auf gar keinen Fall war die Lesbe wie ein Mann, für den sich eine Frau rund um die Uhr in der Küche wie im Bett abarbeiten musste. Bei der Lesbe durfte die Frau von den Leiden des Patriarchats ausruhen.

Zur größten Errungenschaft der Lesben- und Frauenbewegung wurde der klitorale Orgasmus. Das Eindringen in den weiblichen Unterleib war zwischen Lesben nicht verboten, aber lesbisch-ideologisch nicht korrekt und ja auch überhaupt nicht nötig. Im Lesbenzentrum, in der Lesben-AG, am Lesbenstammtisch und in der Lesben-WG wurde die Penetration grundsätzlich als männlich verworfen. Penetration war politisch nicht korrekt. Schon gar nicht zwischen zwei Frauen.

Als bei dem Frauenmagazin Emma ein Manuskript einging, in dem eine unbekannte Autorin schilderte, wie und wo sie ihre Freundin mit ihren Fingern, mit ihrer Hand, mit Genuss und mit und ohne Dildo penetrierte und sich penetrieren lasse, gab es über die Frage, den Text zu veröffentlichen oder nicht, einen heftigen Disput in der Emma-Konferenz. Konnte das veröffentlicht werden? War die Zeit reif, waren die Frauen reif dafür? Es entstand ein wirklich gelungener Sonderband über Sexualität, darin der ominöse Penetrationstext, ohne zu sehr aufzufallen.

Vor 25 Jahren wurden Judy Andersen und Marion Ihns zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Der Prozessverlauf hatte weniger den Mord zum Inhalt und wie es für die beiden Frau dazu kam. Vielmehr war man der Überzeugung, dass es zum Mord gekommen war, weil das Lesbische sich – vernichtend für den Mann – zwischen Frau und Mann gedrängt hatte.

Die Haftbedingungen für Marion Ihns waren viel besser als die für Judy Andersen. Während Marion Ihns bald Freigängerin wurde, hielt man Judy Andersen in Isolationshaft. Als Björn Engholm in Schleswig-Holstein Ministerpräsident wurde, war eine seiner ersten Taten, Judy Andersen aus dem Lübecker Frauengefängnis nach Dänemark zu entlassen. Daraufhin wurde etwas später Marion Ihns begnadigt. Der von den beiden Frauen gedungene Mörder war schon Jahre zuvor auf freien Fuß gesetzt worden.

Ein Rückblick: Die homosexuelle Bewegung ist eine der bedeutendsten Bewegungen dieses Jahrhunderts. Zum vergangenen Christopher Street Day übermittelten bundesdeutsche Gewerkschaftsbosse dem schwul-lesbischen Komitee ihre Grüße, BürgermeisterInnen der großen Städte ließen die Regenbogenfahne hissen. Und wenn heutzutage eine Frau eine andere Frau fragt, ob sie verheiratet sei, und die Antwort „Ja“ lautet, heißt das nicht mehr selbstverständlich, dass diese Frau mit einem Mann zusammenlebt.

Viola Roggenkamp, 50, lebt als freie Autorin – u. a. für die taz und die Zeit – in Hamburg. Sie veröffentlichte das Buch „Von mir soll sie das haben? Gespräche mit Müttern lesbischer Töchter“, Krug und Schadenberg, Berlin 1998, 198 Seiten, 34 Mark