Das Alter ist weiblich

„Das Alter ist weiblich“, sagt die Göttinger Sozialpsychologin Astrid Osterland. Das trifft in zweierlei Hinsicht zu: naturgemäß und traditionell. Naturgemäß, weil Frauen im Durchschnitt älter werden als Männer, und traditionell, weil seit jeher fast ausschließlich Frauen die Pflege alter Menschen übernehmen – seien es Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter oder professionelle Pflegerinnen. „Der Netztwerkbezug im Alter ist weiblich“, sagt Osterland. Will heißen: Im letzten Jahrzehnt ihres Lebens haben es Frauen, ob sie wollen oder nicht, fast ausschließlich mit Frauen zu tun.

Frauen in Deutschland werden heute im Schnitt 79,8 Jahre alt, Männer 73,5 Jahre. Fast 62 Prozent der über Sechzigjährigen sind Frauen. Vor hundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen bei 38,5 Jahren, von Männern bei 35,6 Jahren. Warum Frauen älter werden als Männer, ist bis heute nicht geklärt. Dass beide immer älter werden, liegt vor allem an der besseren medizinischen Versorgung. Von 1973 bis 1990 hat sich die Zahl der über 75-Jährigen in Deutschland verdoppelt. Etwa 21 Prozent der Bevölkerung sind heute älter als sechzig, 2020 werden es über dreißig Prozent sein.

Doch die Menschen in Deutschland werden heute nicht nur älter als früher (und es kommen weniger Junge hinzu) – sie werden auch anders alt. Alter ist nicht (mehr) gleichzusetzen mit Gebrechlichkeit. Es gibt immer mehr junge Alte, Menschen, die bis ins hohe Alter aktiv und selbstständig sind. Das wirkt sich auch auf die Wohnformen aus: Immer mehr Menschen bleiben in den eigenen vier Wänden; andere ziehen in Seniorenwohnanlagen, wo sie die notwendige Hilfe erhalten. Erst wenn es nicht mehr anders geht, gehen sie in ein Heim. Das hat zur Folge, dass das klassische Altenheim ausstirbt, an seine Stelle tritt das Pflegeheim. Gleichzeitig probieren die selbstständigen Alten neue Wohnformen aus – die Altenwohngemeinschaft ist eine davon. Ähnliche Projekte wie in Göttingen gibt es mittlerweile in mehreren deutschen Städten, teils als Frauen-, teils als geschlechtsgemischte Wohngemeinschaften. Andere Projekte versuchen durch gezielte Altersmischung (Wohnen Jung und Alt), die verloren gegangene Großfamilie unter modernen Vorzeichen neu zu beleben.

Die Altenpflege reagiert auf die Veränderungen bei ihrer Klientel mit einer neuen Philosophie. Das Schlagwort heißt Empowerment und kommt aus der Sozialarbeit in den USA. Ziel dieses Ansatzes ist es, den Klienten zu helfen, sich selbst zu helfen. Dahinter steht die Überzeugung, dass Menschen über Ressourcen der Lebensbewältigung verfügen, auch wenn sie alt, arm, arbeitslos, behindert oder sonst wie geschwächt sind. Der Empowerment-Ansatz in der Altenhilfe stellt folglich nicht die Defizite und Schwächen der alten Menschen in den Vordergrund, sondern ihre Kräfte und Fähigkeiten, die es (wieder) zu entdecken und zu unterstützen gilt. In einer Studie der Europäischen Union über „Empowerment älterer Menschen“, die Projekte in sechs verschiedenen Ländern untersuchte, wurde die Göttinger Alten-WG als Paradebeispiel aufgeführt. Ulrike Schnellbach