Zugvögel als Friedenstauben

Was die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak schaffen will, haben jordanische, palästinensische und israelische Naturschützer bereits vorgemacht Von Werner Paczian

Plötzlich hängt der Himmel über Galiläa voller Perlenketten. Es dämmert. Invasionsartig steuern Kranichstaffeln auf ihre Schlafplätze im nordisraelischen Hulatal zu. Die großen Flügel mit den gefingerten Handschwingen schlagen einen langsamen Takt. Claus-Peter Hutter, Präsident der Umweltstiftung „Euronatur“, senkt das Fernglas und lauscht den schrillen Rufen. Gruu! Gruu! „Als wollten sie sich gegenseitig anfeuern“, sagt er schließlich. Kurze Zeit später landen tausende Kraniche in den Feuchtgebieten des Hulatals, das zu den bedeutendsten Zugvogelrastplätzen der Welt gehört. Zwar scheren sich die gefiederten Tiere keinen Deut um den Friedensprozess, aber jetzt sollen sie den Politikern Beine machen. Naturschützer aus Israel, Jordanien und dem palästinensischen Autonomiegebiet setzen auf Kraniche und Co. als Friedenstauben für den gesamten Nahen Osten. „Zugvögel kennen keine Grenzen“, so heißt ihr wichtigstes Projekt, das aus ehemaligen Todfeinden Freunde machen will und vor allem bei den Jugendlichen ansetzt.

Euronatur war es 1995 gelungen, Vertreter nahöstlicher Ökoverbände erstmals an einem Runden Tisch zu versammeln. Inzwischen läuft das Vorhaben mit den grenzenlosen Zugvögeln, die Schirmherrschaft haben US-Vizepräsident Al Gore und Schimon Peres übernommen. Das Projekt nutzt Israels einzigartige Lage an der Kreuzung der drei Kontinente Afrika, Asien und Europa: Im Herbst und im Frühjahr wird das Heilige Land zu einem Flaschenhals für Zugvögel auf ihrem Weg von Osteuropa und Asien, nach Afrika oder umgekehrt. Weil sie die Thermik nutzen, die es über der offenen See nicht gibt, wählen sie eine Route zwischen der israelischen Mittelmeerküste und dem fruchtbaren Jordantal. 550 Millionen Exemplare von über dreihundert Arten zwängen sich jedes Jahr durch den engen Korridor.

Um das Zugvogelprojekt vorantreiben zu können, mussten vergangenen Winter ein paar Kraniche im Hulatal etwas länger rasten. Dan Alon, israelischer Ornithologe, und Javier Alonso, ein spanischer Kranichspezialist, fingen die Exemplare per Netz ein und sperrten sie vorübergehend in ein abgedunkeltes Zelt. Dann schritten die beiden Vogelschützer zu einer Weltpremiere und schnallten einem Kranich einen Satellitensender ins Gefieder. Danach ließen sie das Tier wieder frei und nahmen sich seine Artgenossen vor. Etwa drei Jahre sollen die solargetriebenen Transmitter Daten per Satellit auf die Erde funken. „Wir wollen herausfinden, wohin die Vögel fliegen, damit wir ihre wichtigsten Rast- und Winterplätze in Afrika schützen können“, erklärt Gerald Hau, Euronatur-Projektleiter. Noch wichtiger als wissenschaftliche Erkenntnisse ist die Friedensmission des Projektes. Jugendliche aus der kriegsgeschüttelten Region verfolgen den Flug der Kraniche via Internet – im gesamten Nahen Osten (www.birds.org.il). Schulklassen schicken sich E-Mails: „Hey, der Vogel fliegt jetzt vom Hulatal Richtung Bethlehem. Schaut mal ins Netz.“ Und: „Wir haben schon Dutzende palästinensische und jordanische Schulen, die sich an dem Projekt beteiligen“, erzählt Jossi Leshem, Ornithologe an der Tel Aviver Universität. „Unser Traum ist es, dass sich immer mehr Jugendliche aus dem ganzen Nahen Osten kennenlernen und irgendwann später die Hände schütteln.“

Anfänge sind gemacht. Israelische und palästinensische Kinder hatten sich vor einem Jahr erstmals zum gemeinsamen Birdwatching getroffen. Im Hulatal beobachteten sie den Flug von Millionen Zugvögeln auf ihrem Weg Richtung Süden. „Unser Geschäft ist es, die Natur zu schützen, indem wir dort, wo sie am schönsten ist, junge Menschen zusammenbringen. Nebenbei schließen sie auch noch untereinander Freundschaften“, sagt Jossi Leshem.

Leute wie er sind der personifizierte Friedensprozess. „Zugvögel brauchen keine Einreisevisa. Die landen da, wo sie Futter finden. Ich halte mich an die Tiere und aus der Politik raus“, sagt er. Der Mann, ein strenggläubiger Jude, baut gerade ein internationales Forschungszentrum für Zugvögel auf, ausgerechnet in Räumen der zentralen militärischen Gedenkstätte in Latrun. „Wir haben den Ort ausgewählt, weil er in der Mitte von Israel liegt und einen symbolischen Wert hat. Militär und Krieg waren unsere Vergangenheit, Zugvögel zeigen uns die Zukunft ohne Grenzen.“

Jossi Leshem durfte sich mit seinem Vogelzentrum bei den Militärs einnisten, weil er ihnen nebenbei ein Programm zur Flugsicherheit entwickelt hat. In Latrun arbeitet bereits eine russische MRL-5 Radarstation, von der die riesigen Schwärme im israelischen Luftraum geortet werden. „Bis zu hundert Tonnen prallen auf ein Kampfflugzeug, wenn es mit großen Vögeln zusammenstößt“, sagt Jossi. Die Trümmer einer F-15, ausgestellt an der Außenwand der Radarstation, belegen die Worte. Pilot Ronen Lev starb, als seine Maschine 1995 mit drei Störchen kollidierte und abstürzte. Von Latrun aus werden jetzt weitere Radarstationen speziell zur Zugvogelwarnung in Israel, Palästina und Jordanien installiert. „Die Soldaten lieben meine Pläne. Und für Ökotouristen haben wir damit topaktuelle Infos, wo sie am nächsten Tag welche Vögel bestaunen können.“ Zusätzlich errichtet Jossi gemeinsam mit Palästinensern und Jordaniern ein Netzwerk von Beringungsstationen.

Auch Imad Atrash ist der personifizierte Friedensprozess. Der Palästinenser christlichen Glaubens leitet das erste Umwelterziehungszentrum im palästinensischen Autonomiegebiet nahe Bethlehem. Mit einem Mini-WC in der Hand steht Imad Atrash vor Schulklassen und lehrt sie das Wassersparen. „Bei uns eine Überlebensfrage.“ Dann erklärt er an Schautafeln, dass Zugvögel keine Grenzen kennen. Oder er lässt die Kinder an Riech- und Fühlkästen ein Stück Natur begreifen. 65 palästinensische Schulen nutzen bereits die Einrichtung. „Wir haben außerdem mit den Israelis das Programm ,Von Schule zu Schule‘ vereinbart“, sagt Imad Atrash. Vor vier Jahren hat er Jossi Leshem kennengelernt und zählt ihn längst zu seinen Freunden. „Der Frieden ist noch weit, aber die Kinder beider Seiten lernen, sich gegenseitig zu achten und vielleicht eines Tages sogar zu lieben.“

Euronatur begann seine Aktivitäten in der Region 1994. „Wir haben das Vertrauen aller Seiten, deswegen mussten wir oft als Moderatoren einspringen“, sagt Claus-Peter Hutter. Daraus ergaben sich regelmäßige Kontakte, gemeinsame Projekte und die Fortbildung von Naturschützern. Hutter ist überzeugt, dass Ökotourismus im Nahen Osten eine friedensstabilisierende Rolle spielen kann.

„Willkommen in Jericho, der ältesten Stadt der Welt“, sagt Imad Atrash mit so viel Stolz in der Stimme, dass sein schwarzer Schnäuzer bebt. „Jericho war die erste Stadt, die uns die Israelis nach dem Osloabkommen zurückgeben mussten.“ In diesen Tagen erwartet das Heilige Land den großen Ansturm. Dann beginnen die Feierlichkeiten zum 2000. Geburtstag Jesus. Die Stadt rechnet mit über zwei Millionen Besuchern. „Viele von ihnen werden gleichzeitig zu uns, nach Israel, Jordanien und vielleicht auch noch Ägypten reisen“, prophezeit Madji Shomali, PR-Manager des Projektes „Bethlehem 2000“. „Aus touristischer Sicht sitzen wir alle in einem Boot.“

Das jordanische Wüstenreservat „Dana“ ist ein weiterer Baustein im grenzüberschreitenden Tourismuskonzept. Talep Hamed Khwaldeh arbeitet hier als Parkranger. Noch ein personifizierter Friedensprozess. Als Jäger hat der gläubige Muslim früher wilden Tieren den Kampf angesagt, als Soldat den Israelis. Heute packt er kein Gewehr mehr an, und zu seinen Besuchern gehören auch Menschen aus dem jüdischen Nachbarland. Mit denen streift er durch biologisch bewirtschaftete Terrassengärten vorbei an Feigen-, Mandel- und Walnussbäumen. Es riecht nach Minze und Thymian, während die Stimme des Muezzins durchs Dorf schallt, Ziegen meckern und Kinder rufen. Turbantragende Viehhirten grüßen herzlich, manchmal kreisen Adler durch die Luft. Die „Königliche Naturschutzgesellschaft“ managt den Park anhand strenger Kriterien, nach denen Menschen, Tiere und Pflanzen einen harmonischen Dreiklang erzeugen sollen.

Gleichzeitig spielen die royalen Ökos eine wichtige Rolle im Friedensprozess. Ihre Vertreter trafen sich mit Jossi Leshem im Hulatal und besuchten Imad Atrash in Bethlehem. Stets wurde der Trialog sanft von Euronatur angeschoben. „Bevor wir hier tätig waren, hatten die Organisationen untereinander überhaupt keinen Kontakt“, sagt Gerald Hau. Schon bald ist das nächste Treffen für regionale Naturschützer in Amman geplant. Gemeinsam wird es danach ins Dana-Reservat gehen. Das Schutzgebiet, südlich vom Toten Meer gelegen, beherbergt auf 320 Quadratkilometern Tiere und Pflanzen aus drei Kontinenten und vier Ökosystemen. Vom Wüstenflachland im Westen dehnt es sich in die Berge im Osten bis auf 1.860 Meter Höhe aus und garantiert dort oben einen „Fünf-Sterne-Blick“: Vor Einbruch der Dunkelheit taucht ein orangefarbener Himmel die bizarre Gebirgswelt in rötliches Licht, bis jeder Felsen glüht und fast zu explodieren scheint. In solchen Momenten liegt der Nahe Osten direkt im Garten Eden.

Nirgendwo sonst hält die Erde so viele heilige Stätten, archäologische Fundstellen und verschiedene Ökosysteme auf so engem Raum bereit. Die Jerusalem-Höhen zum Beispiel, fast tausend Meter über dem Meeresspiegel, liegen nur einen Katzensprung von Jericho entfernt, der ältesten Stadt der Welt, die im Jordantal unter dem Meeresspiegel gebaut wurde. Dazwischen erstreckt sich die judäische Wüste. „Unsere Natur ist viel zu schön“, sagt der Palästinenser Imad, „als dass wir sie den Kriegern überlassen dürfen.“

Werner Paczian, 41, lebt als reisender Reporter im westfälischen Münster