■ Der Massenmord an Tschetschenen und die Zerstörung ihres Landes offenbaren das Ende von Russlands Demokratisierung
: Lernen von Milosevic

Die Meinungsfreiheit hat sich jetzt aus dem neuen Russland verabschiedet

Nun soll Tschetschenien restlos zerstört werden, Dorf um Dorf, Stadt um Stadt. Russlands Armee ist wohl bei den Milizen des Despoten Miloševic in die Schule gegangen – sie haben die Reifeprüfung für die Fächer „Politik der verbrannten Erde“, „Zwangsvertreibung“ und „Menschenrechtsverletzungen“ mit Auszeichnung abgelegt. Über 200.000 Bewohner der kleinen Kaukasusrepublik Tschetschenien sind geflüchtet, ihre Häuser brennen, ihre Felder werden vermint, ihr Hab und Gut wird von plündernden russischen Soldaten gestohlen. Menschenrechtler gehen von bislang 4.000 Toten aus. Und die Tinte auf den OSZE-Dokumenten von Istanbul war letzte Woche noch nicht getrocknet, da starben wieder tschetschenische Zivilisten im Artilleriefeuer der russischen Armee. Vor ein paar Monaten hätte man so etwas „Vertragsbruch“ und „humanitäre Katastrophe“ genannt. Noch finanziert der Westen die Katastrophe mit. Etwa eine Milliarde US-Dollar kostet dieser Feldzug monatlich. Den könnte sich der russische Staat ohne die Dollar nicht leisten.

Die Konferenz von Istanbul bedeutete eine Wende im Schmusekurs gegenüber Boris Jelzin. Selten zuvor gerieten die ost-westlichen Vertreter so hart aneinander. Es war ein Echo aus der Zeit des Kalten Krieges. Schröder, Chirac und andere haben verstanden, dass Tschetschenien Sinnbild ist für die Hau-drauf-Politik eines alten, überwunden geglaubten Russland. Die westlichen Führer müssen nun noch mehr in die Pflicht genommen werden. Längst dürften Kredite an Russland nicht mehr fließen. Die Mitgliedschaft Moskaus in der OSZE oder im Europarat muss eingefroren werden. Und den Generälen, die das Massaker auf Grosnys Marktplatz zu verantworten haben, soll der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht werden. Anders wird Russland nicht verstehen, dass Mord und Plünderei kein Rezept für Stabilität und Sicherheit sind. In Istanbul verkörperte Boris Jelzin die Politik der eisernen Hand, ohne sich um westliche Bedenken zu scheren. Aber wer kontrolliert wen in Russland? Ist Jelzin eine Marionette, die die Realpolitik des Ex-Geheimdienstlers Putin nachvollzieht, oder billigt der Kremlherr die blutige Machtkonsolidierung seines Kronprinzen?

Gewiss ist nur: Schon vor den Bombenattentaten in russischen Städten nahmen Übergriffe auf Kaukasusbewohner zu, insbesondere junge Männer liefen leicht Gefahr, willkürlich verhaftet zu werden. Inzwischen meiden meine ausländisch aussehenden Freunde die Straßen Moskaus. Sie haben immer Bestechungsgeld dabei, und manche nähen sich die Taschen an der Kleidung zu, damit russische Polizisten ihnen kein Rauschgift unterschieben. Illegale Verhaftungen von dunkelhäutigen und -haarigen Fremden sind an der Tagesordnung, die Verwandten müssen viel Geld zahlen, um sie freizukaufen. Viele Gefangene werden misshandelt und ohne Rechtsgrundlage abgeschoben. Die ersten Fälle von Verschwundenen werden bekannt.

Der latente Rassismus gegenüber allen Bewohnern des Kaukasus (gegen die „tschornije“, die „Schwarzen“) ist nun Alltagskultur geworden. Unbekümmert nennen russische Comedyserien die Tschetschenen „Kakerlaken“. Russische Offiziere benutzen in Interviews das deutsche Wort Endlösung, um ihre Kampagne zu charakterisieren. In Diskussionen wird darüber nachgedacht, ob Tschetschenen eigentlich genetisch Verbrecher sind und darum ausgemerzt gehören. Der Feind ist endgültig zum Untermenschen mutiert, mit dem man machen kann, was man will. Meine wenigen vernünftig gebliebenen Freunde in Moskau sorgen sich: „Hier herrscht eine Stimmung wie damals wohl in Deutschland, kurz vor der Machtübernahme Hitlers. Unsere Tschetschenen sind eure Juden.“

In Moskau, so fürchten die wenigen Liberalen und Zweifler, findet in diesen Wochen ein kalter Putsch statt. Die Meinungsfreiheit hat sich ebenfalls aus dem neuen Russland verabschiedet. Der Medienkrieg ist in vollem Gange, den Russen werden überwiegend hurrapatriotische Reportagen über die Jungs und Waffen an der Front gezeigt, wieder und wieder. Beliebt sind auch Gruselvideos über tschetschenische Verbrecher, die vor laufender Amateurkamera ihre Geiseln foltern. Was kaum gezeigt wird: das Elend der Zivilisten, die nichts mit den Verbrecherclans zu tun haben. Wer gegen diese Gehirnwäsche aufmuckt, wird als Terroristenfreund gebrandmarkt.

Zu gerne haben Politiker und Öffentlichkeit im Westen die russische Propagandalüge geschluckt, es handele sich nicht um einen Vernichtungsfeldzug, sondern um eine Aktion gegen Terroristen. Jeder, der vor Ort war, weiß: Die tschetschenischen Freiheitskämpfer des ersten Krieges waren vor allem Nationalisten und von ihren Traditionen motiviert. Der Islam kam erst vor rund 250 Jahren in diese Region und war nur oberflächlich in der Bevölkerung verankert. Bis zum Ausbruch dieses zweiten Krieges waren die fundamentalistischen Gruppen in Tschetschenien Randerscheinungen, eine Hand voll aus Saudi-Arabien und Jordanien importierte Eiferer. Nun werden die Radikalen Zulauf erhalten, die antirussische Front wird weit über Tschetschenien hinaus wachsen und sich gefährlich vereinen mit religiösen Fanatikern. Wehe auch uns im Westen, wenn todesbereite Mudschaheddin sich zivile Ziele (oder Atomkraftwerke) vornehmen. Jelzin, Putin und Sergejew züchten die Taliban des Kaukasus heran. Europa hat dann ein eigenes Afghanistan vor der Haustür.

Die Weltgemeinschaft weiß, was zur Zeit hinter den Schlagposten der russischen Armee passiert: nämlich ethnische Säuberung, Massenmord an Unschuldigen, systematische Verwüstung und Zwangsumsiedlung. Russische Offiziere gaben inzwischen zu, dass sie absichtlich auf Zivilisten zielen. Der Bombenangriff auf den Markt von Grosny, bei dem rund 200 Menschen starben, war kein Ausrutscher. Parallelen zum Kosovo-Krieg sind offensichtlich. Aber ich bezweifle, dass in Den Haag Dossiers zu Jelzin, Putin, Sergejew und Co. angelegt werden. Sie haben Atombomben, Miloševic nicht.

Der latente Rassismus gegenüber den Kaukasiern ist Alltagskultur geworden

Das kleine Tschetschenien ist nicht ein bedauernswerter Zwischenfall auf dem schwierigen Weg Russlands zur Normalität und Demokratisierung. Es geht bei diesem zweiten Krieg tatsächlich um mehr – um das Ende der Demokratisierung in Russland selbst. In langen Telefonaten sagen mir Menschenrechtler in Moskau: „Wir sind nicht in einer Übergangsphase, wie Ihr im Westen unsere Probleme schönschreibt. Wir sind angekommen. Es wird nicht besser werden.“ Die neue Vergangenheitsbewältigung heißt: Schluss mit den Schuldgefühlen. Russland ist wieder wer.

Sonia Mikich