Dreidimensionale Schriftzeichen

Trisha Brown, eine der bedeutendsten Choreographinnen, ist mit einem selbstgetanzten Solostück und einem neuen Programm ihrer Company im Hebbel Theater zu sehen  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Die Reihe ihrer Auszeichnungen füllt ganze Aktenordner, ihre Bewegungsschöpfungen haben Tanzgeschichte geschrieben. Zur Zeit ist die Choreographin Trisha Brown mit ihrer Company im Hebbel Theater zu sehen. „If you couldn't see me“ heißt das von Trisha Brown selbst getanzte, einem einstündigen Gruppenstück vorangestellte Solo: Eine minimalistische, vom Publikum abgewandte Meditation. In verschraubten, spielerisch leicht ineinandergedrehten Bewegungen durchmißt Trisha Brown die Bühne, schreibt verschlungene Linien in den Raum und zeigt sich dabei nie mehr als in einer halben Drehung dem Publikum zu- beziehungsweise abgewandt. Die Tänzerin zeigt nur den Rücken, bleibt in gewisser Weise abwesend, ein Geheimnis – ihr Gesicht wird man erst beim Schlußapplaus sehen.

Der Tanz bekommt so etwas Irreales, Entrücktes, wird zu einem ätherischen Dialog mit sich selbst, transparent wie das von Robert Rauschenberg entworfene Kleid, das den Rücken freiläßt und die Beine sanft umweht. Die Musik, ebenfalls von Robert Rauschenberg (mit dem Trisha Brown seit 13 Jahren zusammenarbeitet) hat keine eigenen Rhythmen, statt dessen entsteht, durch changierende Tonhöhen und Lautstärken, ein Klangkontinuum. Zäsuren und Rhythmik vollziehen sich nicht in der Musik, sondern im Raum. Sie werden durch den Tanz gesetzt: Nicht die Musik, der Tanz ist es hier, der singt – in sichtbaren, den Raum durchkreuzenden Linien des Körpers.

Trisha Brown hat im Laufe ihrer 35jährigen Choreographen-Karriere ein höchst eigenwilliges, irritierendes Bewegungsvokabular entwickelt. Eines ihrer ganz frühen Stücke geht von einer Drehbewegung des rechten Daumens aus, die zunächst auf Hand und Arm ausgedehnt wird, dann auf den anderen Arm, den Kopf und den Rumpf. Von diesen unspektakulären, höchst komplexen Drehbewegungen ist nicht nur Trisha Browns Tanz durchdrungen, sondern auch ihre Choreographien – die sie mittlerweile nicht mehr mit ihrem eigenen Körper, sondern am Reißbrett entwickelt. Eine Erforschung des Verhältnisses von Körper und Raum, Zeit und Bewegung, in dem zukünftig die Musik eine größere Rolle spielen soll.

„M.O.“, der zweite Teil des Abends ist der Auftakt zu einem neuen Zyklus mit dem Titel „Musik“.

Für „M.O.“, choreographiert zu Bachs „Das musikalische Opfer“, hat Trisha Brown eine völlig mathematisierte Sprache entwickelt, chaotisch und formenstreng zugleich. Die Arme und Beine bilden rechte Winkel, Dreiecke, Kreise. Es ist unaufhörliche Bewegung auf der Bühne, und gleichzeitig frieren einzelne Tänzer ihre Gesten immer wieder zu Posen ein. Aktion und Stillstand durchdringen sich, die neun Tänzer verdichten sich zu einer engen Gruppe, lösen sich auf, schwärmen über die Bühne, gehen ab und treten unvermittelt wieder in Erscheinung.

Wie bewegt sich die Musik im Raum, scheint sich die Choreographin gefragt zu haben. Sie hat eine Partitur in Bewegung auf die Bühne gebracht, indem die Tänzer wie dreidimensionale Schriftzeichen agieren, die den Raum vollschreiben. So, daß der Tanz Spuren hinterläßt, auch wenn die Bühne leer bleibt. Prallten im ersten Teil Ordnung und Unordnung hart aufeinander, wird im zweiten die Unordnung in die Ordnung mit einbezogen – und um so verwirrender wird alles. Männer und Frauen tanzen separat, formieren sich jeweils in Geraden, die sich durchdringen und ineinander verschieben. Trisha Brown scheint den Geheimnissen der Musik auf der Spur wie selten eine Choreographin. Jede Emotion der Bewegung geht hier ein in die strenge Ordnung der musikalisch organisierten Struktur – die Körper werden zu Zuhörern, die Seele zum Dialogpartner der Musik.

Außer einer der bedeutendsten lebenden Choreographinnen gibt es derzeit im Hebbel-Theater auch eine einschneidende Neuerung: Erstmalig wird in Deutschland ein Tanzpreis von einigem Gewicht vergeben. Mit 270.000 DM dotiert, soll er herausragenden künstlerischen Arbeiten auf die Sprünge helfen. Die Idee kam von Dieter Buroch, Leiter des Frankfurter Mouson-Turmes: Zwölf Produzenten der Bundesrepublik haben sich zusammengeschlossen und steuern zwischen 15.000 bis 30.000 DM bei. Zum ersten Mal ging der Preis vorgestern an Wanda Golonka und VA Woelfl.

„If you couldn't see me“/„M.O.“ Noch bis zum 18. Juni, 20 Uhr, im Hebbel Theater, Stresemannstr. 29, Kreuzberg