Der Wahn und das eigene Seelenmodell

■ Das dunkle Gesicht“, Manfred Dierks' Roman über den Analytiker C. G. Jung

Die Psychoanalyse, hat Karl Kraus einmal geätzt, sei selbst die Krankheit, die sie zu heilen beanspruche. Die Polemik galt in erster Linie Freud; ihr richtiger Kern trifft jedoch eher die analytische Psychologie C. G. Jungs, dessen Konzept der so genannten Übertragung davon ausgeht, dass der Analytiker eigene Erfahrungen in den Abgründen des Unbewussten gemacht haben muss. Deswegen gebe es auch keine „absolute Wahrheit in der Psychologie (...). Jeder gute Psychologe hatte sein eigenes Seelenmodell – das eben ihm selbst entsprach. (...) Psychologie war ein Zusammenspiel von Heiler und Heilmethode.“

So formuliert es in Manfred Dierks' neuem Buch „Das dunkle Gesicht“ der Schweizer Psychiater Alt, und wer diesen Namen in sein Gegenteil verkehrt, weiß, wer gemeint ist. Diese literarische Fantasie über C. G. Jung ist ein ebenso spannender wie erhellender, tiefschürfender wie amüsanter, biografischer Roman über die Entstehung der Tiefenpsychologie um die Jahrhundertwende. Dierks hält sich exakt an die äußeren Daten von Jungs Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg und extrapoliert daraus die subtile Charakterstudie eines psychologischen Genies, das, von eigenen Visionen gleichermaßen fasziniert wie bedroht, Mystik und Erotik so wichtig nahm wie Analyse und Methode und deshalb zu Ergebnissen kam, die die Psychologie revolutionierten: „Es gab keine Assoziation, die völlig unbegründet war!“ Diese Einsicht erschloss Wege in den Wahn von Psychotikern und Schizophrenen, die vorher verschlossen waren, weil die Krankheitsursachen physiologisch statt psychologisch gedeutet wurden.

Jung betrachtete das Unbewusste nämlich nicht nur als Lagerstätte verdrängter, infantiler persönlicher Erfahrungen, sondern auch als Ort psychischer Aktivität, die von der persönlichen Erfahrung abweichend und auch objektiver als diese sei, da sie sich direkt auf die phylogenetische und instinktive Basis der menschlichen Rasse bezieht. Das Erstere, das persönliche Unbewusste, beruhe also auf Letzterem, dem kollektiven Unbewussten, in dem archetypische Vorstellungen abgespeichert lägen. „Die Vergangenheit der gesamten Menschheit wird irgendwo aufbewahrt“, heißt es im Roman. „Kein Gedanke geht verloren – keine Erfahrung und keine Idee. Alles, was einmal existiert hat, existiert immer noch und dauert fort an einem Ort, den wir nicht begreifen. Aber es ist da und tritt immer wieder auf. (...) Die Bilder aus der Menschheitsgeschichte stecken im Hirn. Ganz unten im Gedächtnis. Ein, zwei Etagen über der Affenfamilie. Es sind die Erfahrungen der Urahnen – sie sind zu Bildern geronnen und auf uns vererbt. (...) Das Urbild im Hirn. Ein Reiz – und es erscheint.“

Dierks verfolgt im Roman auch das Problem, wie diese Konstruktion von völkischer Ideologie missverstanden und missbraucht werden konnte, insofern hier der Weg zu absurden Vorstellungen wie der von der „germanischen Urseele“ sehr kurz geworden war. Und auch von der Katastrophe, die sich ergeben kann, misslingt die Übertragung zwischen Patient und Psychiater, erzählt Dierks – und zwar keineswegs akademisch abstrakt, sondern in Form eines spannenden, sich dramatisch zuspitzenden Plots. Was diesen Roman jedoch so lesbar macht, ist nicht nur seine ausgefuchste Dramaturgie, sondern vor allem der Erzählton – eine Ironie, die zwar an Thomas Mann geschult, aber frei von dessen stilistischen Selbstverliebtheiten ist. Dierks schreibt ironisch, aber mit schlackenloser Lakonie und trockenem Witz.

Mit seinem Romanessay „Der Wahn und die Träume“ war Dierks vor zwei Jahren am Beispiel Thomas Manns der Frage nachgegangen, welche Schlüsselerlebnisse oder Urszenen, welche Grunderfahrungen also Autoren überhaupt zum Schreiben antreiben und wie diese dann im Werk variiert und vexiert zur Sprache kommen. „Das dunkle Gesicht“, das mit einigem Recht auch „Der Wahn und die Bilder“ hätte heißen können, ist unter anderem auch eine Ausdehnung und Radikalisierung dieser Problematik, indem es die Grenzregionen zwischen individuellem und kollektivem Unbewusstem vermisst, aber eben auch die zwischen Kunst und Wahn: „Alles betrachten können, was je da war und immer noch ist.“ Über die aufsteigenden Bilder heißt es deshalb einmal: „Den einen machten sie verrückt und den anderen zum Propheten“; den Dritten, wäre hinzuzufügen, zum Künstler oder Schriftsteller.

Dierks' Protagonist Alt entdeckt an sich selbst die heilsame Kraft so genannter Mandalas, Bilder, die unbewusste Probleme symbolisch umsetzen und durch aktive Imagination an die Oberfläche bringen. Insofern ist jedes Kunstwerk, auch dieser Roman, eine Art Mandala. Klaus Modick

Manfred Dierks: „Das dunkle Gesicht“. Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1999, 310 Seiten, 39,80 DM