Keiner hüpft vom Trampolin

Was ist soziale Gerechtigkeit? Während die SPD auf ihrem Berliner Parteitag darüber redet, suchen Näherinnen, Arbeitslose und Gewerkschafter in Delmenhorst Antworten  ■   Von Jens Rübsam

Passend zum Parteitag kommt die Milde über den deutschen Bundeskanzler. Gerhard Schröder erklärt die „Gerechtigkeit“ zur Chefsache.

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Müssen die Reichen künftig etwas mehr geben? Oder sollen die, die mehr leisten, künftig auch mehr davon haben? Meint der Boss Chancengleichheit? Oder materielle Gleichheit? Oder führt er nur eines im Schilde: Den Genossen einen zartbitteren Worthappen in den Rachen zu werfen, damit die Seele der Partei endlich Ruhe gibt?

Also was? Was heißt Gerechtigkeit? Mit dem Kanzler ist nicht weiterzukommen. Vielleicht ist in Delmenhorst, in der niedersächsischen Provinz, mehr zu erfahren.

Hier muss die Betriebsrätin einer mittelständischen Näherei ihr Einverständnis geben, wer zu entlassen ist. Kollegin Höcker? Kollegin Unsöld? Kollegin Kreye? Wie kann es gerecht zugehen?

Hier hat ein Langzeitarbeitsloser – zwei Stunden täglich und insgesamt sechs Wochen – vor dem Arbeitsamt geduldig ausgeharrt, auf der Brust ein Schild: „Jetzt haben wir zwar eine andere Regierung. Die Grausamkeiten gegen die Sozial-Schwachen gehen aber weiter“. Was ist gerecht?

Hier treffen sich im DGB-Haus Gewerkschafter und gedenken selig der acht Millionen Mark, die ihre Verbände vor gut eineinhalb Jahren in die Werbekampagne „Für den Regierungswechsel. Für soziale Gerechtigkeit“ investiert haben. Und jetzt? „Das Sparpaket produziert eine soziale Schieflage“, stöhnen sie. Wo ist die erhoffte Gerechtigkeit?

Es stürmt in Delmenhorst. Es peitscht gewaltig durch die feinen Passagen und zwischen den geduckten Bürgerhäusern. Und die Expo-Fahnen, die vor dem Rathaus den Außenstandort der Weltausstellung schmücken, toben im Wind. Fast ist anzunehmen: „Anatol“ wütet auf Bestellung.

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Gerechtigkeit, hört man mittlerweile allerorten in Deutschland, gibt es nicht. Hey, Kanzler, wofür willst du sorgen?

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Wenn dieser Tage Betriebsrätin Ingrid Nüning, 60, beim morgendlichen Rundgang durch die Näherei Lamod den Kolleginnen in die Gesichter schaut, wünscht sie sich zuweilen, sie wäre nicht die Sozialbeauftragte. „Mein Gott“, sagt sie, „jede zweite Kollegin hier wird gehen müssen.“

Lamod ist eine Näherei, 129 Beschäftigte, fast ausschließlich Frauen, die meisten weit über vierzig. Man kennt sich gut, man ist gemeinsam alt geworden, man weiß, wer wann Geburtstag hat und wer wann Kopfschmerzen. Als der Geschäftsführer vor zwei Wochen über „erdrutschartige Rückgänge bei den Aufträgen“, „Dumpingpreise im Ausland“ und über „Umsatzverluste von 30 Prozent“ informiert, ist allen klar: Die Familie wird aufgelöst. Ist nur noch die Frage: Wer geht zuerst?

Auf den Stangen in der Werkhalle hängen Blazer. Blazer in Beige und in Zartgrün, 400 Mark teuer, vornehm bezeichnet als „Mode für Konservative“, ungehalten beschimpft als „Mode von vorgestern“. Wer beim Zulieferbetrieb Lamod näht, füttert oder bügelt, näht, füttert oder bügelt seit Jahren die immergleichen Blazer. Lediglich die Jackentaschen sind mal spitzer geworden oder mal schräger aufgenäht. Aber sonst? „Wer trägt so was eigentlich noch?“, scherzen die Kolleginnen. Jetzt wissen sie es: Fast niemand mehr.

Der Geschäftsführer will „einen Neuanfang wagen“. Innovativer soll es zugehen, flexibler, es soll wieder gewinnbringend gewirtschaftet werden – allerdings mit der halben Belegschaft.

Entlassen? Kollegin Höcker. Schwer behindert. Drei Kinder. Der Mann zu Hause, krank. Kollegin Höcker ist ein Sozialfall. Müsste bleiben in der Firma. Kollegin Unsöld. Die Erfahrendste, 35 Jahre an der Nähmaschine. Könnte vielleicht in Frühruhestand. Kollegin Kreye. Keine Kinder. Ein Häuschen. Der Mann hat Arbeit. Soll ausgerechnet die Kollegin Kreye gehen? Die hat die größte Power. Ist an jedem Flecken in der Firma einsetzbar.

Im Büro stehen sich Geschäftsführer, Betriebsleiter und Betriebsrätin gegenüber – und beißen sich fest an der „Gerechtigkeitsfrage“. Der Betriebsleiter sagt: „Wir können nicht nur die Sozialfälle behalten. Dann können wir irgendwann ganz dichtmachen.“ Die Betriebsrätin sagt: „Es gibt keine Gerechtigkeit.“

Aus der Werkhalle dringt lediglich das Rattern der Nähmaschinen ins Chefbüro. Wer gehen soll, schweigt, der weiß: Der nächste Weg führt zum Amt. Erst zum Arbeitsamt. Dann zum Sozialamt.

Ab vierzig gibt es keine Chancengleichheit mehr.

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Hey, Kanzler, wofür willst du sorgen? Willst du weiterhin durchs Land jagen und Staatsgelder regnen lassen?

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Delmenhorst, Königsberger Straße 99. Rainer Niehaus lässt sich nur noch beschenken. Schrankwand, Tisch, Couch, Regal, Geld. Alles Geschenke. Von Bekannten. Vom Mann aufm Sperrmüll. Vom Sozialstaat. Der überweist 1.290 Mark monatlich. „Ich klage nicht. Andere sind noch mieser dran.“ Und werden noch mieser dran sein „durch das unsoziale Sparpaket der Regierung“.

Wenn Rainer Niehaus, 48, ewig arbeitslos, dieser Tage in seiner Bewerbungsmappe blättert, wünscht er sich zuweilen, er wäre ein Spund. Jung und dynamisch malt er sich, so wie die Bosse ihre Arbeitnehmer haben möchten. Nicht so alt und so gebrechlich wie sie Niehaus sehen. Was nützt es, wenn er auf Vorstellungsterminen barmt: „Aber ich sprühe doch vor Energie.“

In der Bewerbungsmappe des Programmierers findet sich ein Zeugnis von Februar 1984, das letzte Arbeitszeugnis. Es reihen sich Bewerbungen an Absagen und Absagen an Bewerbungen, und neuerdings finden sich immer weniger Absagen, weil sich kein Boss mehr die Mühe macht, abzusagen. „Ich existiere“, sagt Niehaus, „aber ich lebe nicht.“

Vor Wochen hat sich der Langzeitarbeitslose Niehaus an seine Schreibmaschine gesetzt und Sätze aus Schröders Regierungserklärung aufs Papier getippt: „Das soziale Netz muss nach unserer Auffassung zu einem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückferdern können.“ Da sich kein Trampolin fand in Delmenhorst, postierte sich Niehaus wochenlang vors örtliche Arbeitsamt und forderte „wenigstens“ die „Rücknahme der jährlichen Drei-Prozent-Kürzung der Arbeitslosenhilfe“. 265 Bürger unterschrieben den Protest, und der Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis sicherte Unterstützung zu – bis ihn die Parteiführung zur Geschlossenheit mahnte.

Vier Weiterbildungsmaßnahmen – nichts! Praktika – nichts! Niehaus hängt im Sessel. „Die Gesellschaft“, sagt er, „ist krank.“

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Hey, Kanzler, wofür willst du sorgen? Für den nächsten Wahlerfolg? Weil 53 Prozent derer, die im Herbst 98 Rot gewählt haben, die Sozialdemokraten nicht mehr in Einklang bringen mit sozialer Gerechtigkeit, wird Gerechtigkeit mal rasch zum Chefwort erklärt. Und wie weiter?

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Delmenhorst, DGB-Haus. Wenn dieser Tage Gewerkschafter Rat halten, wünschen sie sich zuweilen, sie könnten wieder auf die Straße gehen. Wieder laufen für einen Politikwechsel, laufen für Gerechtigkeit – genauso wie vor der Bundestagswahl. Unklar allein ist diesmal die Richtung. „Wohin“, fragt Gewerkschafterin Köllner, 52, „sollen wir denn marschieren?“ Die Sozialdemokraten tragen die soziale Gerechtigkeit doch quasi im Namen. Strittig ist, ob dies ein Segen ist oder ein Fluch – sind sie doch an der Regierung. „Sollen wir etwa jetzt gegen uns auf die Straße gehen?“

Gewerkschafter Klöpper, 53, erweckt den Eindruck, als wolle er losrennen. „Es ist etwas Reales“, donnert er, „dass die Reichen in dieser Gesellschaft immer reicher werden und die Armen immer ärmer.“ Sein Rezept: „Die Reichen müssen sich an der Finanzierung des Staatswesens beteiligen.“

Gewerkschafter Kelm, 51, hat sich das Wichtigste in einem Artikel pink angestrichen. „Sparpaket. Kürzungen zu Lasten sozialer Leistungen und öffentlicher Investitionen sind der falsche Weg. Eine solche soziale Schieflage werden die Gewerkschaften ebenso wenig akzeptieren wie das zweijährige Aussetzen der nettolohnbezogenen Rentenanpassung.“

Ulrich Kelm ist nicht der Typ, der gleich die Stiefel schnürt. „Die SPD ist doch meine Partei.“ Seine Hoffnung: „Die SPD muss wieder Bodenhaftung bekommen.“

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Hey, Kanzler, wofür willst du sorgen? Im Leitantrag des Bundesvorstandes hast du vorsichtshalber einbringen lassen: Starke Schultern müssen stärker belastet werden. Konkret: Höhere Besteuerung von großem Immobilienbesitz. Also, alles paletti oder was?

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Passend zum Parteitag ist die Milde über die deutschen Sozialdemokraten gekommen. Gehorsam schlucken sie des Kanzlers zartbitteren Worthappen.