Kroatien trauert um seinen „Vater“

Präsident Franjo Tudjman hat sein Land beim Zerfall Jugoslawiens in die Unabhängigkeit geführt. Doch erst mit seinem Tod wird der Weg frei für einen demokratischen Neuanfang und ein Ende der politischen Isolation  ■   Von Erich Rathfelder

Franjo Tudjman, der Präsident Kroatiens, war bis zu seinem Tod am vergangenen Freitag populär. Während seine Partei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ), dramatisch an Zustimmung verloren hat, ist Tudjman in den Augen der Mehrheit der kroatischen Bevölkerung bis zuletzt ein großer Politiker geblieben. Die Rolle, die er sich selbst zugewiesen hatte, nämlich Vater der Nation zu sein, wurde und wird von der Mehrheit seiner Landsleute akzeptiert.

Daran ändert auch die Kritik der oppositionellen Medien und vieler Intellektueller nichts. Wie kaum eine andere Zeitung haben die Satiriker der in Split erscheinenden Wochenzeitschrift Feral Tribune seit Beginn der Präsidentschaft 1990 an Tudjman kein gutes Haar gelassen. Die legendären Fotomontagen, die Tudjman zusammen mit dem heutigen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloševic im Ehebett zeigen, die dort aufs Korn genommenen Finanzskandale, in die seine Familie verstrickt sein soll, die Wiedergabe skuril anmutender Versprecher, das Sich-lustig-Machen über die Fistelstimme Tudjmans, haben zwar viele Lacher erzeugt. An der grundsätzlichen Haltung der kroatischen Gesellschaft zu ihrem Präsidenten hat die Kritik jedoch nichts zu ändern vermocht. Wahrscheinlich macht es den Erfolg des Franjo Tudjman aus, der in Erscheinungsbild, Sprech- und Denkweisen ein ganz durchschnittlicher Kroate ist, mit dem das „einfache Volk“ sich identifizieren kann.

Sein Lebensweg ist dennoch ungewöhnlich. 1922 in der nordöstlich von Zagreb liegenden Region Zagorje geboren, fühlte sich Tudjman früh zu oppositionellen Ideen hingezogen. Denn während der Zeit der Königsdiktatur Ende der Zwanziger- und Dreißigerjahre war der Staat Kroatien aufgelöst. Die gerade von kroatischen Intellektuellen vertretene Idee eines südslawischen, also jugoslawischen Staates, hatte sich in dem von Serbien dominierten ersten Jugoslawien spätestens seit 1928 in ein Instrument der Repression gegen alle Nichtserben verkehrt.

Während viele Kroaten den 1941 durch italienische und deutsche Bajonette geschaffenen klerikal-faschistischen kroatischen Staat unter dem „Führer“ Ante Pavelic zunächst als Befreiung von der serbischen Herrschaft begrüßten, ging Tudjman auf Distanz, ja in den Widerstand. Er schloss sich Ende 1941 der in Kroatien gegründeten Partisanenbewegung an und machte unter dem kommunistischen Parteiführer und Gründer des zweiten, jetzt kommunistischen Jugoslawien, dem Kroaten Josip Broz, genannt Tito, Karriere. 1945 war der 23-jährige Tudjman der jüngste Partisanengeneral.

Als jugoslawischer Militär blieb er zunächst ein Hätschelkind des Regimes, wohnte in Belgrad, brachte es sogar zum Präsidenten des Fußballvereins „Partizan“. Was Tudjman 1961 dazu veranlasste, seine Karriere als Offizier aufzugeben, Belgrad zu verlassen und in Zagreb Geschichte zu studieren, dann als Professor Leiter des „Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung“ zu werden, ist bis heute nicht bekannt.

Tatsache ist aber, dass er im „Kroatischen Frühling“ 1971 reformkommunistische Ideen vertrat und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Tudjman begann sich zunehmend als kroatischer Historiker zu profilieren, der energisch die in Serbien verbreitete Kollektivschuldthese gegenüber Kroatien zurückwies. In seine Arbeiten über das Konzentrationslager Jasenovac leugnete er die Ermordung von Juden, Roma und kroatischen Oppositionellen nicht. Er wandte sich jedoch gegen die von serbisch-nationalistischer Seite völlig überzogenen Zahlen der Toten und korrigierte sie – wahrscheinlich zu weit nach unten.

In den Achtzigerjahren mehrten sich in der kroatischen Gesellschaft erneut die Stimmen, die die Selbstbestimmung Kroatiens erreichen wollten. Parallel mit dem Aufstieg von Miloševic in Serbien wurden in nationalen Zirkeln Kroatiens sogar die Weichen auf Unabhängigkeit gestellt. Das kroatische Exil in den USA und Kanada sowie die schon damals extrem nationalistisch denkenden Vertreter der Westherzegowina in Bosnien suchten nach einem kroatischen Politiker, dem es gelingen konnte, die gespaltene Nation zu einen: Tudjman wurde zu jener Person erkoren, die die sich vorher bekämpfenden Strömungen in der Gesellschaft, die Kommunisten und die Exilierten, schließlich in Form der HDZ unter einen Hut zu bringen versuchte.

Seine Fähigkeit zur Integration unterschiedlicher Strömungen und seine Erfahrungen als Militär sollten ihn zum ruhenden Pol in der kroatischen Führung nach den Angriffen der serbischen Freischärler und der Jugoslawischen Armee nach der Unabhängigkeitserklärung am 25. Juni 1991 machen. Im Herbst 1991 forderte er gegen den Willen von Heißspornen in den eigenen Reihen immer wieder Verhandlungen und Waffenstillstände, versuchte die internationale Gemeinschaft für Kroatien einzunehmen, baute aber gleichzeitig auch die kroatische Armee auf.

Daneben bewies er sich als Stratege: Indem er im Frühjahr 1991 in Geheimverhandlungen mit Miloševic in Karadjodjevo über die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas zwischen Kroatien und Serbien zu sprechen begann, nötigte er Miloševic faktisch die Anerkennung Kroatiens ab. Mit der von Miloševic mitgetragenen Entscheidung im November 1991, UN-Truppen ins Land zu holen und der im Januar 1992 ausgesprochenen diplomatischen Anerkennung Kroatiens durch die meisten EU-Länder konnte er eine Atempause für Kroatien erreichen.

Die Weichenstellung in Karadjordjevo sollte ihn und Kroatien jedoch in die falsche Richtung führen. Indem Tudjman sich auf die Kategorien seines Gegenspielers und Partners in Bezug auf die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas einließ, indem er ab nun nicht nur für die „Befreiung“ Kroatiens kämpfte, sondern auch für die Annexion von Gebieten eines anderen Staates eintrat, wandelte sich Kroatien vom „Opfer zum Täter“. Wie Miloševic suchte er einen Teil des bosnisch-herzegowinischen Kuchens herauszuschneiden, die kroatisch-bosnische Armee „säuberte“ ganze Gebiete Zentralbosniens von „Nichtkroaten“. 1993, während des noch bestehenden Spannungszustands in Kroatien selbst, kämpften serbische und kroatische Armeen zwar nicht offen, doch verdeckt Seite an Seite gegen den bosnischen Reststaat.

Angesichts dieser Konstellation wurde im Inneren die Pressefreiheit eingeschränkt – vor allem Feral Tribune wurde mit Prozessen überzogen –, Propaganda ersetzte zunehmend Information. Kritiker, die Tudjman gefährlich werden konnten, wurden mundtot gemacht. Tudjman isolierte sich von der Gesellschaft, begann mit Fantasieuniformen angetan, den früheren Staatschef Tito zu imitieren. Mitglieder seiner Familie, so sagen Kritiker, kontrollierten fortan die Geheimdienste, schlugen Profit aus dem Import dringend benötigter Waren und verdienten sogar an der Ausrüstung der kroatischen Armee. Die Kritik an Tudjman nahm zu. Die Opposition begann sich wieder zu regen.

Die internationale Konstellation wirkte sich aber günstig für den schon angeschlagenen Tudjman aus. Vor allem die USA versuchten, den kroatisch-bosnischen Krieg zu stoppen, im März 1994 wurde das „Washingtoner Abkommen“ geschlossen, das diesen Krieg beendete. Kroatien erhielt im Gegenzug militärische Hilfe. Der Westen entschloss sich, schärfer gegen Miloševic vorzugehen.

Mit den Offensiven der kroatischen und bosnischen Truppen im Sommer 1995 wurden mit Hilfe der Nato die serbischen Armeen – bis auf Ostslawonien – aus Kroatien herausgedrängt und nach dem Massaker in Srebrenica auch in Bosnien geschlagen. Diesmal mussten hunderttausende Serben fliehen. Während der Kompromiss von Dayton in Bosnien-Herzegowina noch den Serben entgegen kam, konnte sich Tudjman uneingeschränkt als Sieger fühlen. 1997 wurde auch Ostslawonien wieder unter kroatische Herrschaft gestellt.

Der militärische und diplomatische Sieg festigte die Stellung Tudjmans im Inneren erneut. Nun war er tatsächlich „Vater der Nation“. Kroatien sei Teil Mitteleuropas und nicht des Balkans, behauptete Tudjman. Seine autokratische und nationalistische Politik erreichte jedoch das Gegenteil: Sie isolierte Kroatien. Angesichts der anhaltenden Repressionspolitik konnte die demokratische Opposition nur noch auf Unterstützung von außen hoffen.

Und die kam: Die EU hielt die Türen zu, selbst der Eintritt in den Europarat war nur durch Konzessionen Tudjmans in Bezug auf die die Erleichterung für die Rückkehr von Serben, der Pressefreiheit und der Zusammenarbeit mit Den Haag zu erreichen. Tudjman musste 1997 zähneknirschend sogar einige der Kriegsverbrechen Verdächtige zentralbosnische Kroaten an das Tribunal ausliefern. Oppositionelle Medien konnten sich am Leben halten. Und darauf hoffen, dass die Frage des Machtwechsels auf „natürliche Weise“ gelöst würde. Tudjmans Tod macht den Weg frei für einen demokratischen Neuanfang und eine echte Annäherung Kroatiens an Europa.