Die Zukunft kennt niemand

Bei Kunst und Wein diskutierten in der Hauptstadt Zukunftsforscher und ein „Daten-Dandy“ über Bergstiefel, Frauen, Apokalypsen und die Welt von morgen ■ Von Rolf Lautenschläger

Zukunft in Berlin! Das sind das altehrwürdige Café Kranzler und der Ku’damm. Das sind Torte mit Schlagsahne und Polizeifahrzeuge, die in der eiskalten Nacht Junkies in Boxershorts jagen. Brandneu ist seit gestern in der Hauptstadt auch die Erkenntnis, dass in Zukunft bei Diskussionsforen nicht nur Männer auf das Podium gehören. „Frauen sind die Zukunft“, konstatierte ein Teilnehmer der Visionen-Veranstaltung „Stoppt die Zukunft? – Ein essayistisches Streitgespräch am Ausgang des 20. Jahrhunderts“. Unisex ist steinzeitlich. Eigenen Angaben zufolge bestätigte ihm das auch ein Trendmensch, der Zukunftsforscher Matthias Horx, weil „totalitäre Utopien“ out und „komplexe Visionen“ in seien.

Horx kam zur Diskussion aus Wien nach Berlin. Ebenfalls aus Österreich waren ins Kranzler der „Daten-Dandy“ Theo Ligthart und der Technologieanthropologe Wolfgang Pauser gereist. Dreimal Österreich also, was eine spacig gekleidete Zuhörerin am Ende der Supervision über die Zukunft, bei einem Glas Wein allerdings, zu der Vermutung trieb: „Da muss das Thema ja daneben gehen.“

Ging es auch. Zwar kümmerte sich Moderator Lutz Engelke, Chef der Projektgesellschaft Triad, die mit wunderbaren Kunststücken („10 Botschaften aus dem nächsten Jahrtausend“) derzeit den Ku’damm schmückt, anfangs noch um die Linie. „Wie viel Zukunft brauchen wir? Was hat dieses Jahrhundert für das kommende vorgesehen?“ Die Antworten atomisierten jedoch Fragen. Zwei Beispiele: Zukunft ist, sagte Alpen-Dandy Ligthart, „wenn man sich in Bergschuhen keine Blasen mehr holt“. Natürlich meinte er, technologische Entwicklung mache das Leben leichter. Darüber hat aber niemand gelacht, sondern über die österreichische Bergstiefelassoziation. Zukunft dagegen ist nicht, meinte Horx, wenn Apokalypsen die positiven Visionen von mehr Demokratie, mehr Information, mehr Internet und mehr „Social-fiction“ verdrängen. Horx: „Die Apokalypse ist der Größenwahn der Depressiven.“

Wer also erwartet hatte, im Kranzler etwas über seine, unsere und die Berliner Zukunft zu erfahren, lag daneben. In einem Exklusivbeitrag gab der Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller, Kybernetiker und Autor altbackener DDR-Sciencefiction-Bücher, die Antwort. „Wir Zukunftsforscher sind die einzigen, die wissen, dass niemand weiß, wie die Zukunft wird.“ Wer hätte beispielsweise gewusst, dass der Ostblock 1989 versinkt? Niemand, sagte Steinmüller, der sonst gut drauf war und nachlegte: „Die Zukunft findet hinter dem Rücken der Zukunftsforscher statt.“

Eigentlich hätte man an dem Punkt die Veranstaltung abbrechen und die Disco anwerfen können. Zur Party hatte die Gruppe „Rechenzentrum“ eingeladen. Vielen Männern und schönen Frauen, die keinen Sitzplatz im Kranzler ergattern konnten, wäre das recht gewesen. Doch sie mussten sich weiter die Beine in den Bauch stehen. Denn Thorsten Schilling, von Beruf „Medienkultivator“, bekam die zweite Luft. Zukunft sei nichts Fremdes, „sie vergegenwärtigt sich bereits heute“. Was im 20. Jahrhundert angelegt, angedacht, aber auch falsch gelaufen sei, bestimme das 21. Jahrhundert mit.

Genau, hielten da Horx und der DaimlerChrysler-Wissensmanager Heiko Roehl mit. Es gehe darum, „nach diagnostischen Prozessoren“ und „microinversiven Kräften“ zu fahnden. Roehl: „Dann können wir die Gegenwart in die Zukunft ausdehnen.“ Klug gesagt, denn was der Daimler-Mann meinte, erklärte er gleich hinterher: „So erhält man Signale, wo sich Produkte absetzen lassen.“ Nicht richtig, konterte Horx. Niemand garantiert, dass blaue Autos morgen noch trendy sind. Bewegen wir uns also in einem Zukunftsvakuum?

Vorhang zu und alle Fragen für die Zukunft offen? Es war ein netter Abend. Doch noch. Auf der Heimfahrt lag der Ku’damm wie ausgestorben da. Und irgend jemand zitierte Helmut Kohl: „Es geht um unsere Zukunft.“