Zu Hause im Trachtenpuppenmuseum

Ihr Haar färbt sie schwarz, weil sie nicht wie eine Hundertjährige aussehen will. Ihr verstorbener Mann hat sie immer nur gescheucht, schon lange bevor er Alzheimer bekam. Zur Puppenmutter, zur Bewahrerinlokaler Trachtenkultur ist sie eher zufälliggeworden. Nun ist sie ein bisschen berühmt.Eigentlich. Eine literarische Reportage aus dem Schaumburger Landvon Cornelia Kurth

Mutter, du brauchst nicht mehr zu rennen! Er ist doch nicht mehr da! Ja, das hat ein junger Bursche zu mir gesagt, als ich mit fünfzehn Mark in der Tasche zum ersten Mal wieder rausging, nach Jibi, einkaufen. Ich bin ja immer nur gerannt, solange mein verrückter Mann lebte, ich kannte keine einzige Kneipe, kein Kino, nichts, und hab doch vierzehn Jahre in der Stadt gewohnt. Ich sehe mir den jungen Mann an. Na, ist das mein Sohn?, denke ich und frage ihn: Wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? Er hätte ja mein Sohn sein können, ich weiß das nicht so genau – sie sind ja alle zwölf ganz früh abgehauen, meine Kinder, haben sich abgesetzt von meinem Mann. Nur ich blieb immer da, praktisch genommen habe ich wie eine Gefangene gelebt. Jibi, Aldi und die Apotheke, schnell, schnell, schnell – was anderes gab’s für mich nicht. Ich konnte nicht weg, zuerst wegen der Kinder nicht, und dann, als er ganz verrückt wurde, musste ich immer Angst haben, dass er die Wohnung zerstört und mir alles kaputtmacht, was ich aufgebaut habe.“

Wir sitzen in ihrer Küche, einer ordentlichen kleinen Küche, die völlig unpersönlich ist bis auf die Tatsache, dass sie außer Kaffeemaschine und Kochplatte kein anderes elektrisches Gerät enthält.

„Ich brauch nichts“, sagt sie, „nichts außer Zigaretten, Kaffee und meiner Zeitung. Meine Puppen sind ja da. Das sind meine Kinder, das ist mein Werk.“

Ganz blau, strahlend hellblau sind ihre Augen in einem ansonsten müde-runzeligen und hageren Gesicht mit vielen Falten. Leichthin sagt sie: „Mein Leben ist eine Gruselgeschichte.“ Und doch könnten diese Augen nicht ruhiger blicken, wenn sie von Dingen erzählen würde, an die man sich in Frieden erinnert.„Erst hat er getrunken, mein Mann. Maurer war er, kam alle drei, vier Wochen nach Hause, hat mich missbraucht, mir ein Kind angedreht und verschwand wieder. Und dann diese Krankheit, Alzheimer, da war er Tag und Nacht nur in Gange. Er sammelte alte Öfen, die ganze Wohnung war voller alter Öfen. Als wir raus mussten aus der Wohnung, da hab ich ganz allein vier Container voll geladen, bei Hagel und Blitz, weil der Sperrmüll kam. Und als ich damit fertig war, da hat mein Mann mir mit der Gaslampe das ganze Gesicht verbrannt. Er dachte, ich sei ein Dieb. Da endlich ist ein Richter gekommen und hat ihn erst mal nach Wunstorf in die Psychiatrie gebracht. Ich hab ja nicht mehr geschlafen in den Nächten – ein Bett hatte ich sowieso nicht, das war ja immer voll gemacht, das ist ja bei solchen Kranken so. Nur auf dem Stuhl hab ich gesessen und acht Stunden lang genäht, nie geschlafen, immer nur genäht. Zweitausendvierhundert Trachtenteile habe ich in meinem Leben genäht.“

Ihre neue Wohnung ist auf dem Dorfe, in einem ausgebauten Stall, sie gehört weniger ihr selbst als den vielen hundert lebensgroßen und winzig kleinen Puppen, die in einer langen Diele aufgebaut sind, dort, wo früher die Schweineboxen waren. Mit ihren ernsten Gesichtern und oft werbend vorgestreckten Armen scheinen diese Puppen ergeben darauf zu warten, dass jemand sie zum Leben erweckt. Zu einem Leben im Schaumburger Land, das sich zwischen 1815 und 1950 abspielen würde, in der Zeit nämlich, aus der ihre prächtigen, mit Perlen und Schmuck bestickten Trachten stammen. Die Puppenmutter selbst hat für sich nur diese Küche. Und ein Sofa im „Trachtenpuppenmuseum“, auf dem sie abends ihr Bett aufschlägt und das sie morgens wieder abbaut, weil ja Besucher kommen könnten in ihr Museum.„Doch, doch, es kommen Besucher. Viele Besucher. Als ich hier einzog, da dachten die Leute, ich wär nur eine alte verrückte Frau. Aber dann haben sie gesehen, dass ich Fremde ins Dorf bringe. Ich führe auch ein Gästebuch, hier! Ist das die Seite, wo die Gräfin Bismarck sich eingetragen hat? Oder Prinz Eduard? Ich kann das nicht so richtig lesen, leider kann ich nicht so ganz richtig lesen. Mehrere Scheichs waren hier, mit ihren Frauen, die nur durch schwarze Schlitze durch den Schleier gucken. Einer, der kaufte Rassepferde hier in der Gegend und sagte: Das Museum muss in eine Großstadt! Geht nicht, sagte ich, ich bin ein armes Luder, und dann war ja noch mein Mann dazwischen. Ein anderer, Scheich Achmed, der wollte eine Tasche von mir, mit Einhornperlen, weil die die Potenz steigern. Auch ein echter Indianerhäuptling war dabei, der meine Perlenstickerei sehen wollte. Ich bin berühmt. Eigentlich.

Jedes Jahr fahren Senioren hierher, aus Hamburg, in ganzen Busladungen, da mach ich Kaffee und Kuchen, ich bin ja Köchin, dann geht das fluzz, fluzz, und die jungen Frauen aus dem Dorf helfen mir. Siebenundzwanzig Tortenböden und der kranke Mann. Hundertsiebzig Leute waren das an einem Tag, einmal, ich hab dreihundert Mark genommen, Kaffee und Kuchen inklusive, und mir den Mund wund gesabbelt mit all den Erklärungen. Die alten Leute, die weinen meistens, wenn sie die Urtrachten sehen. Mutters Trachten, sagen sie, und weinen.“

Plötzlich liegen Schächtelchen mit winzigen bunten Perlen auf dem Tisch und dazu ein schwarzer Rock, dessen unterer Rand schon fast vollständig mit einem blumigen Muster bestickt ist.

„Ich mache gerade eine Lindhorster Tracht“, sagt sie. „Seit einem Jahr sitz ich da schon dran. Die Haube besteht nur aus Perlen. Ich zähle sie vorher ab und ordne sie zu kleinen Häufchen. Vor dreizehn Jahren, da habe ich einen Trachtenmacher kennen gelernt, der war schon über siebzig Jahre alt, Vater und Großvater auch Trachtenmacher. Da hatte ich gerade meine erste Bückeburgerin fertig, abgeguckt aus dem Heimatmuseum. Ich durfte die Glastür aufmachen und den Stoff anfassen und alles mit Buntstift abmalen. Tut mir leid, sagt der Alte, das ist keine echte Bückeburgerin, Sie haben die aus 21 verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Ich hab fast geheult. Anderthalb Jahre hab ich gebraucht für alle Details, und dann sagt mir der alte Knacker so was.

Willst du bei mir lernen?, fragte er mich, deine goldenen Hände müssen was zu tun haben! Ja, sagte ich. Und er war ein strenger Lehrmeister, nicht mit Schimpfen, nein, aber so genau. Hatte ich eine Perle zu viel, konnte ich sie kaputtbrechen, aber eine zu wenig, da musste ich alles wieder aufrippeln. Eine echte Schaumburger Krone, wissen Sie, die wiegt sechzehn Pfund und besteht aus 27.899 Perlen. Und eine Originalperle kostet, na, sechs, sieben Mark kostet die.“

Jetzt lächelt sie über ihr ganzes faltenreiches Gesicht, verschämt und verschmitzt zugleich, und diese strahlenden hellblauen Augen drücken nichts als vollstes Vertrauen aus.

„Du willst wissen, wie ich an das Material rankomme, nicht wahr? Das ist doch so einfach! Puppenmutter, sagen die Leute, Sie haben nicht viel Geld, und ich habe auch keins, also: Arbeit gegen Material! So ist das. Beim Geldverdienen bin ich ein dummer Hund. Ich werde sehr übers Ohr gehauen, aber mir gehört auch eine Puppe aus dem vierzehnten Jahrhundert, die hab ich so ergaunert, in den ganzen Tauschgeschäften. Ich mache eben die Trachten fertig, und manchmal lege ich ein Stück für mich auf die Seite. Eine Frau vom Theater besorgt mir Perlen aus Russland, für umsonst. Oder die alten Leute bringen mir was. Die tauchen hier auf, weil sie von mir gehört haben, und kriegen erst mal einen Dahlschlag, wenn sie die Puppen sehen. Ich ziehe denen die Würmer aus der Nase, und ihnen macht es Spaß, mir was Neues beizubringen.

Und die Puppen, das darf ich eigentlich gar nicht verraten, das sind ja eigentlich gar nicht meine. Es gibt da eine Frau, die ist ausgewandert, die besorgt mir die Puppen zum Bekleiden und schickt mir monatlich etwas Geld. Wenn ich mal eine verkaufe, dann bekommt die den Gewinn. 500.000 Mark ist die ganze Arbeit wert, das hat man mir gesagt. Ich kann mir das nicht vorstellen. Hab doch gehungert und alles, und jetzt soll ich eigentlich reich sein? Ich will gar nicht reich sein.“

Sie greift zur nächsten Zigarette aus der Marlboro-Packung, die in Wirklichkeit mit Aldi-Zigaretten gefüllt ist und schenkt den letzten Schluck Kaffee ein. „Nein, Sie sehen ja, ich hab mir meine Fröhlichkeit bewahrt. Und wenn ich traurig bin, dann bin ich innen traurig. Da kann ich nur mit ihm da oben reden, dann geht es wieder. Jetzt bin ich sechzig, ja, ja, das sieht man nicht, weil ich mir die Haare gefärbt habe. In Natur bin ich schneeweiß, das macht mich hundert Jahre alt, aber den Anblick so einer alten Frau im Spiegel konnte ich nicht ertragen. Ich muss ja noch leben und arbeiten und ein Buch schreiben. Obwohl ich nicht weiß, wie das gehen soll, wo ich doch nicht schreiben kann. Aber das Buch muss her, ein Trachtenbuch mit Nähanleitung. Denn wenn ich mal abkratze, dann . . . . ist keiner mehr da, der das kann.“

Cornelia Kurth, 38, lebt als freie Autorin und Journalistin in Rinteln. Von 1991 bis 1992 war sie Kulturredakteurin bei der taz Bremen

Das beschriebene Trachtenpuppenmuseum ist in Ahe bei Rinteln beheimatet.