Pickpockets
: Unbeobachtete Beobachter

Bücher, TV, Popmusik: Von der Poesie neuer und alter Medien

Das Fernsehen ist heute so selbstverständlich präsent wie Wasser und Strom. Seine Funktion hat sich längst verschoben, vom „Medienerlebnis zum Tagesbegleitmedium“ (B. Sichtermann), vom einkanaligen Stifter kultureller Übereinkunft zur Zapping-Maschine durch Scheinwelten, deren Allgegenwart gen unendlich tendiert. In naher Zukunft wird es zu Verbindungen des digitalen Fernsehens mit dem Internet kommen. Ob diese Entwicklung freilich den Nutzern endlich die viel beschworene Interaktivität bescheren wird, ist fraglich. Die Beiträge des von Stefan Münker edierten, aufschlussreichen Readers „Televisionen“ beleuchten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Mediums im Hinblick auf die gesellschaftlichen, wahrnehmungspsychologischen und kulturellen Folgen – gelegentlich etwas akademisch, im Ganzen aber gut lesbar.

Sehr viel trockener kommen da schon, trotz des flotten Etikettenschwindels des Titels „Viva MTV!“, die kultursoziologischen Aufsätze und Untersuchungen zur Popmusik im Fernsehen daher, die der Soziologe Klaus Neumann-Braun herausgegeben hat. Das Buch ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie ein verquast theoretisierender Blickwinkel auf bestimmte Phänomene dafür sorgt, dass diejenigen, denen diese Phänomene gelten, als Leser nicht in Frage kommen. Sätze wie der folgende dürften jedenfalls radikal ungeeignet sein, Konsumenten von Popvideos zu erreichen und ihnen etwas über ihre Sehgewohnheiten zu vermitteln: „Nach Erwerb der symbolischen Funktion entsteht das Klassifikationsmuster der ‚partitiven Zugehörigkeit‘, bei dem funktionale und gestalthafte Ergänzungsverhältnisse zwischen Objekten, nicht aber ihre intensionale Relation zu seiner Assoziation führen.“ Wessen intellektuelle Belastbarkeit dergleichen akademischen Imponierjargon freilich aushält, erfährt hier immerhin allerlei Wissenswertes über die Pop- und Videokultur, die im Medium Fernsehen zu sich selbst gefunden hat.

Dass der Musikvideoclip nicht nur vorgefundene ästhetische Mittel recycelt, sondern durchaus innovativ sein kann, ist inzwischen unbestritten; ein Film wie „Lola rennt“ wäre beispielsweise ohne die Ästhetik des Videoclips nicht denkbar gewesen. Auch in der bildenden Kunst gibt es seit Fluxus-Zeiten längst Tendenzen, ästhetisch produktiv mit dem Fernsehen umzugehen.

Schwieriger gestaltet sich jedoch das Verhältnis zwischen Literatur und Fernsehen, was im Wesentlichen daran liegt, dass die Literatur die telematischen Medien wesentlich als Konkurrenz empfindet und sich nur widerstrebend auf deren Innovationspotenzial einlässt. Der Kritiker und Publizist Hubert Winkels zeigt mit seinem äußerst anregenden, klugen und elegant geschriebenen Essay „Leselust und Bildermacht“, welche Rolle die Literatur im Fernsehen und in den neuen Medien und welche Rolle das Fernsehen und die neuen Medien in der Literatur spielen. „Will Literatur“, schreibt Winkels, „sich auch ohne populistisches ‚Leichter-Lesen‘-Styling als Ferment der allgemeinen Kommunikation erhalten, so muss sie eine paradoxe Strategie einschlagen: Sie muss sich dem Verlust ihrer symbolischen Hoheitsfunktion stellen, und sie muss ihre mediale Nachrangigkeit einbekennen. Aus dieser Distanz zur Mediengesellschaft kann sie dann so etwas wie die Rolle eines unbeobachteten Beobachters entwickeln.“

Dass die neuere Literatur von den wirklichkeitsproduzierenden Möglichkeiten der neuen Medien und dem Umbau der Wahrnehmungsstrukturen in der telematischen Gesellschaft fasziniert ist, zeigt Jochen Hörisch in seiner Abhandlung „Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien“. Der Autor kommt zu dem Fazit, dass dem Ende tradierter Literaturformen immer ein neuer Anfang korrespondierte. Er zitiert Walter Benjamin, der schon in den Dreißigerjahren notierte, „dass alles desavouiert wird: die Schilderung durch den Fernseher, die Worte des Helden durchs Grammofon, die Moral von der Geschichte durch die nächste Statistik, die Person des Erzählers durch alles, was man von ihr erfährt ... Nicht weinen. Der Unsinn der kritischen Prognosen. Film statt Erzählung.“ Und eben deshalb, so Hörisch, wird es auch „nach dem Ende der erzählbaren Vorstellungen und dem Ende der klassischen Vorstellungen vom Ende“ noch Literatur geben – zumindest noch Gedichte, „die eine Vorstellung vom Ende der Vorstellung geben“. Klaus Modick

Hubert Winkels: „Leselust und Bildermacht“. Suhrkamp Taschenbuch; 258 Seiten, 17,80 DM Jochen Hörisch: „Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien“. Edition Suhrkamp; 320 Seiten, 24,80 DM Stefan Münker (Hg.): „Televisionen“. Edition Suhrkamp; 239 Seiten, 19,80 DM Klaus Neumann-Braun (Hg.): „Viva MTV! Popmusik im Fernsehen“. Edition Suhrkamp; 351 Seiten, 24,80 DM