Welttheater und Wahrhaftigkeit

Seit drei Jahren bereitet Claus Peymann seinen Wechsel vom Wiener Burgtheater an das Berliner Ensemble medientechnisch vor. Nach Beleidigungsorgien inszeniert sich der Direktor heuer als Retter des „verloren gegangenen bürgerlichen Publikums“ ■ Von Eva Behrendt

Das Theater als der letzte „noch nicht zu Grunde gerichtete Medienort“: Hier der Schröder-Kanzler, dort die Peymann-Kanzel

Am Anfang war so eine Art Mutterwitz. Alles „öde Wüste – außer Castorf“. Seit fast drei Jahren beschreibt Claus Peymann mit diesen Worten die Berliner Theaterlandschaft, in deren neuer Mitte er inzwischen Direktor geworden ist. Der blühende Garten, den er in der Nachbarschaft von Spree, FDP-Zentrale, Deutschem Theater sowie im Dunstkreis der Regierungsbauten bestellen will, hätte eigentlich schon im November bespielbar sein sollen.

Dass die Bespielung aus einleuchtenden Gründen noch nicht, aber doch sehr bald möglich sein wird, demonstriert der neue Vater des Berliner Ensembles, indem er in wohldirigierten Abständen auf den Acker lädt: erst die Journalisten, dann noch mal Journalisten und schließlich alle. Als neulich das Haus am Schiffbauerdamm den Sonntagsspaziergängern zur Besichtigung offen stand, kamen trotz Dauerregens Scharen von Besuchern mit Kind und Kegel, um sich vom Fortschritt der Renovierung, der Bespielbarkeit der Haupt- und neuen Probebühne zu überzeugen. Bis hin zu einzelnen technischen Daten war schließlich das Umbauprojekt in den Zeitungen geschildert worden. Doch nicht nur das Haus, auch die Kunst zeigte sich transparent: Der Direktor verschenkte Theatertrailer, Tuchfühlung und ein bisschen gediegene Rummelplatz-Atmosphäre. Innerhalb kürzester Zeit waren die neu eingeführten Wahlabonnements der reformierten Eintrittspreispolitik („Die Reichen zahlen für die Armen“) ausverkauft.

Dass alles so gut anfangen konnte, noch bevor es richtig losgeht, ist auch, aber nicht allein der circensischen Ader Claus Peymanns zu verdanken. Der Regisseur und Intendant, der sich, abgesehen von einem Schaubühnen-Intermezzo 1971 und achtzehn Einladungen zum Theatertreffen (ein Rekord allerdings!), in Berlin nicht hat blicken lassen, ist selbst notorischen Theaterverächtern ein Begriff. Denn kaum ein kulturbürokratisches Ereignis dürfte in den letzten beiden Jahren so ausführlich dokumentiert und kommentiert worden sein wie der Wechsel des 62-Jährigen vom Burgtheater in Wien an den Schiffbauerdamm. Nicht nur die Berliner Theaterredakteure, auch die überregionalen Agenturen hatten alle Hände voll zu tun, aus lauter Peymann-Meinungen, Peymann-Gesprächen und Peymann-Forderungen eine Dramaturgie zu basteln, die mitunter teils ins Staatstragende, teils ins Heilsbotschafliche hinüberlappte.

Ein Spiel mit Erwartungen muss zwangsläufig mit der Ausrufung der Wüste beginnen. Umso besser, wenn darin ein ruinöses Theater mit ruhmreicher Vergangenheit steht. Das längst zum Mythos erhobene Brecht-Theater war zu DDR-Zeiten ein Ensemble von Weltruf, schlingerte jedoch nach dem Mauerfall durch mindestens sechs Intendantenwechsel, verlor mit Heiner Müller den letzten glamourösen Brecht-Nachfolger und wurde zum Zankapfel zwischen der Stadt, den Eigentümern der Immobilie, den Brecht-Erben und dem Dramatiker Rolf Hochhuth. Claus Peymann, der auserkorene Retter dieses komplizierten Spezialfalls, bezeichnet sich selbst nicht nur als den „neben dem früheren Bremer Intendanten Kurt Hübner vielleicht besten Theaterchef nach dem Krieg“. Er sagt auch: „Das bin ich: der Uwe Seeler des deutschen Theaters.“ Kein genialer Stratege wie Beckenbauer, sondern einer, der rackernd das Tor sucht. Fußballmetaphern ziehen ja gerade in Intellektuellenkreisen. Klare Aussagen sorgen für Erleichterung, erzeugen Street Credibility. Und Glaubwürdigkeit, auch das weiß man inzwischen von Peymann, ist schließlich „eine ganz wichtige Voraussetzung von Theater“.

Dass auch Politiker, PR-Agenturen und Konzerne nichts anderes tun, als sich als glaubhaft zu inszenieren, dass demzufolge Glaubhaftigkeit und Wahrheit nicht zwangsläufig deckungsgleich sein müssen und der Begriff Authentizität nachgerade obsolet geworden ist – das alles ist Peymann natürlich nicht fremd, „wo wir einen Kanzler haben, der offensichtlich zum Moderator, zum Talkmaster von Politik geworden ist. Der Mann liest nur noch ab. Es ist ein Schmierentheater.“ Die alte Institution Theater hingegen als Ort der Sinnlichkeit, des kollektiven Erlebens, der intellektuellen Reflexion und gesellschaftlichen Vision – dieses Theater sei der letzte und einzige „noch nicht zu Grunde manipulierte Medienort“, der „Träume und Wahrheiten verbreiten“ könne. Hier der Schröder-Kanzler, dort die Peymann-Kanzel.

Seit beinahe vierzig Jahren führt der gebürtige Bremer Regie, von 1974 an hat er erst in Stuttgart, dann in Bochum und Wien erfolgreich große Bühnen geleitet, dabei Skandale und Krisen durchlebt, etliche selbst provoziert. Überall hat er für eine kontinuierliche Theater- sowie Publikums-Communitas gesorgt: Das in Stuttgart entstandene Dramaturgen- und Schauspielerensemble folgte ihm über Bochum nach Wien, wie auch das ihm in legendärer Treue ergebene schwäbische Stammpublikum, das keine Busfahrten scheute – eine von vielen hübschen Informationen und Anekdoten, die Roland Kobergs gerade erschienene, instruktive Peymann-Biografie „Alle Tage Abenteuer“ (Henschel Verlag Berlin) vermittelt. Umgekehrt hielt Peymann über Jahrzehnte den gleichen Autoren die Treue. Vor diesem Hintergrund von Erfolg und Kontinuität erscheint zumindest Peymanns Glaube an sein persönliches Theater plausibel. Die Apologie vom Theater als letztem Hort der reinen Wahrheit hingegen schmeckt nach plumper Naivität, wenn nicht gar nach komplett unverspieltem Kulturpessimismus.

Ganz praktisch besehen wiederum liegt Peymann mit seiner anachronistischen Sicht des Theaters als Stimme der Erniedrigten und Beleidigten, als Demonstration des „besseren, des richtigeren Lebens, der Alternative“, als Vermittler eines „Menschenbilds jenseits der Klischees“, als aufklärerische Anstalt und Kontrolle der Mächtigen gerade richtig. So straight und simpel wagt sich nämlich in Berlin weiß Gott kein Theater mehr, Auftrag und Programm zu verkünden: Mit schwierigen Rechtfertigungen eines Neorealismus argumentiert die neue Schaubühne; an der Volksbühne haben Dramaturgen das ironische Spielchen so weit getrieben, dass das Spielzeitmotto „Ohne Glauben leben“ eigentlich nur einen Doppeldoppelscherz, also Ernst bedeuten kann. Uwe Seeler hingegen können alle sofort folgen. Und obendrein sieht sich der gesamte marginalisierte Theaterbetrieb aufs Schönste in seiner Bedeutsamkeit bestätigt.

Wie sich Peymann ein solches Theater als Kontrolle der Mächtigen vorstellt: „Ohne Hip, Hop und Pop.“ Das „Vermanschen“ modischer Extras – gemeint sind wahrscheinlich in die Bühnenästhetik integrierte neue Medien, das unter Performern favorisierte Ambient-Theater und harsche Eingriffe in die Textvorlagen – werde man am neuen BE jedenfalls nicht zu sehen kriegen. „Zeitgenössische Literatur“ und „Welttheater“, ein „strenges und klassisches Image“ wollen Peymann und sein Team für ein „verloren gegangenes bürgerliches Publikum“ inszenieren. Noch versteht der Intendant unter „zeitgenössischer Literatur“ vor allem seine bockigen Lieblingsösterreicher Bernhard (tot), Handke, Jelinek und Turrini: „Ich bin einer der wenigen, der noch auf die Intellektuellen setzt. Ich komme aus einer Zeit, wo es noch einen Beuys, einen Heinrich Böll gegeben hat, und wo Enzensberger noch kein Monarchist war.“ Mit Ausnahme des 30-jährigen Philipp Tiedemann scheint Nachwuchsförderung Peymanns Sache nicht zu sein. Gibt es keine Intellektuellen unter 50? Aus Uwe Seeler wird langsam ein Saurier.

In sämtlichen Interviews der letzten Monate hat Peymann versprochen, politische Signale zu setzen, auf dass das Berliner Ensemble es wert sei, „Hauptstadttheater“ genannt zu werden. Das deutlichste politische Signal dieses Jahres setzte er jedoch noch in Wien. In Berlin diskutierte Peymann zwar während des Theatertreffens mit Frank Castorff, Harald Schmidt und dem Theaterkritiker Peter Iden über das Richtige und Falsche am Nato-Einsatz im Kosovo („Zynismus ist eine schlechte Sache“), die Uraufführung von Peter Handkes „Fahrt im Einbaum“ im Juni krönte jedoch die Peymann-Ära am Burgtheater. „Handke installiert konsequent eine Gegenwelt. Theater als Traum – Spiel der Utopien. Dafür wirft man ihm Blauäugigkeit vor“, verstand der Intendant die Welt nicht mehr. Handkes offensive Parteinahme für Serbien galt in Feuilletonkreisen hauptsächlich als reaktionäre Spinnerei. – Von Berliner Abgeordneten musste Peymann sich die Frage gefallen lassen, was er denn damit meine: Er wolle „staatsfeindliches Theater“ machen? War Peymann zu lange im Österreich? Hier regiert doch Rot-Grün!

Eben. „Dieses Deutschland ist deutlich traumloser geworden ... das Klima hat sich verschärft“, konstatierte Peymann kürzlich im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Ich fürchte die deutsche Großmannssucht“ und: „Ich habe schon das Gefühl, ohne jetzt melodramatisch sein zu wollen, dass Deutschland ein bisschen auf der Kippe steht.“ Dem 68er fällt der „angepasste Zeitgeist“ von Schily und Konsorten auf die Nerven. Andererseits: Mit dem „verschäften Klima“, der „Traumlosigkeit“ und „Deutschland auf der Kippe“ kann sich irgendwie jeder identifizieren, schon gar ein „verloren gegangenes Bürgertum“. Bislang hat die „Menschen mordende Medienöffentlichkeit“ Peymann einen roten Teppich nach dem anderen ausgerollt, und Peymann hat jeden einzelnen souverän beschritten. Illustrativ hat er die Zänkereien des Volksbühnenintendanten (Peymanns Theaterarbeit sei „hausbacken, verträglich für jede Steglitzer Vorstadtsiedlung“) vom Tisch geräumt („Ich habe bei Castorff zwei Retourkutschen gelandet, weil er mir wirklich dermaßen an die Eier gegangen ist, dass ich ihm einfach eine rübergeknallt habe“). Selbst als ihn im Sommerloch die B.Z. an den Docks von New York abfing, hatte er etwas zu sagen. Auf seltsame Weise erinnerte sein Urlaubsschimpfen über Berlin und Berliner Theater an den seligen Kaiser Wilhelm II., der gut hundert Jahre früher auf einer Romreise verächtlich geäußert hatte, das neue Reichstagsgebäude sei ja wohl „der Gipfel der Geschmacklosigkeit“.

Wie kalkuliert oder wahrhaftig Peymanns Inszenierung von der Ankunft des Burgtheaterdirektors in der bundesdeutschen Hauptstadt auch sein mag – neugierig hat sie jedenfalls gemacht, unterhaltsam war sie auch. Und man kann sich vorstellen, dass selbst seine inszenatorische Regiemethode aus so genannter Glaubwürdigkeit, moralischer Überzeugung, Transparenz und kleinen Staubwirbeln in der neuen Mitte Schule machen wird – wenn auch nicht mit dem Peymann-Ziel, den moralischen Querschnitt von Aufklärung und 68 zu vermitteln.