„... dass ich das Essen vom Fleisch der Tiere abschaffe“

Wenn in Millionen deutschen Küchen die Leichen unserer „Mitgeschöpfe“, wie sie im Tierschutzgesetz bezeichnet werden, in der Pfanne schmurgeln, ist des Deutschen schönstes Fest in vollem Gange. Doch steht das familiäre und blutige Ritual nicht in eklatantem Widerspruch zu jener Person, deren Geburt mit dem alljährlichen Speisespektakel unterm Tannenbaum gefeiert wird? Jesus nämlich soll mitnichten derlei gutgeheißen und sich selbst fleischlos ernährt haben. Eine Aufklärungsbemühungvon Ingolf Bossenz

Jesus war Vegetarier!“ – diese Überzeugung verkündet forsch in einem Flugblatt die auch in Deutschland aktive internationale Tierrechtsorganisation Peta (People for the Ethical Treatment of Animals). Der Verein beruft sich darin auf „viele Bibelkundige“, die glauben, Jesus sei ein Essener gewesen, also ein Mitglied jenes geheimnisumwitterten jüdischen Ordens im alten Palästina, der insbesondere nach Entdeckung der Schriften von Qumran am Toten Meer ab 1947 zu vielerlei Spekulationen und Theorien über das frühe Christentum und speziell die Rolle Jesu Anlass gab. Die Essener sollen, wie es in dem Peta-Flugblatt heißt, vegetarisch gelebt und Tieropfer abgelehnt haben. Der von ihnen erzogene Jesus habe die Essener-Lehre an seine Jünger weitergegeben.

Diesen Standpunkt vertrat auch der Niederländer Jan van Rijckenborgh (1896–1968), Begründer der esoterischen Geistesschule „Lectorium Rosicrucianum“. In seiner „Elementaren Philosophie des modernen Rosenkreuzes“ heißt es: „Die Essener, aus deren Mitte Jesus kam, waren überzeugte Vegetarier; denn sie kannten die Seele der Dinge, die Einheit allen Lebens.“

Das Lectorium Rosicrucianum vertritt nach Rijckenborgh die Idee, dass sich das Ernährungsproblem allen stellt, die „bewusst innerlich nach der Menschheits- und Welterlösung streben“. Um den sich ständig wiederholenden Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt zu durchbrechen, sei es „selbstverständlich, dass sie Nahrung wählen, die sich den Wiedergeburtsprozessen widersetzt“.

Eine solche Ernährungsweise war für Rijckenborgh der Vegetarismus. Und deshalb – so sein Fazit – wird „in der Bibel kaum oder nur sehr verhüllt über Vegetarismus gesprochen“. In der Tat hatte die christliche Kirche während der letzten anderthalbtausend Jahre wenig Interesse an der Reinkarnationsidee, obwohl diese über mehrere Jahrhunderte hinweg Bestandteil des Christentums war. Auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahre 553 soll sie schließlich verworfen und die Überarbeitung der entsprechenden Glaubenstexte verfügt worden sein.

Ob dieser Zensur auch alle Empfehlungen für eine vegetarische Lebensweise zum Opfer fielen, darüber kann man freilich nur spekulieren. Verschiedene Autoren berufen sich auf Grund dieser vermuteten Entstellungen der Evangelien auf ein „Urevangelium“, das angeblich in einem tibetischen Kloster aufbewahrt wurde und deshalb vor den Fälschern in Sicherheit war. In diesem vor allem durch Gideon J. R. Ouseley (1835–1906) bekannt gewordenen „Evangelium des vollkommenen Lebens“ bekennt sich Jesus als Vegetarier und verkündet unter anderem, er sei „in die Welt gekommen, dass ich alle Blutopfer und das Essen vom Fleisch der Tiere und Vögel abschaffe“. Die Seriosität dieses Textes ist allerdings stark umstritten.

Der wohl entschiedenste Verfechter eines vegetarisch lebenden Jesus, Carl Anders Skriver (1903–1983), bezog sich denn auch nicht auf zweifelhafte Quellen, sondern auf die Bibel selbst, um seine Thesen zu verteidigen. Der in Hamburg geborene Theologe ernährte sich seit seinem 17. Lebensjahr aus ethischen Gründen vegetarisch, mit 45 Jahren ausschließlich vegan, also unter Verzicht auf jegliche tierische Substanz.

Während des Nationalsozialismus als Mitglied der Bekennenden Kirche verfolgt und zeitweise inhaftiert, wandte Skriver sich später gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und unterstützte die Ostermarschbewegung. Vor allem in seinen Büchern „Die Regel der Nazoräer im zwanzigsten Jahrhundert“ und „Die Lebensweise Jesu und der ersten Christen“ verteidigte er die vegetarische Lebensweise als dem christlichen Glauben einzig adäquate.

Skriver schrieb, „dass die Urgemeinde vegetarisch und alkoholabstinent gelebt und das Abendmahl ohne Fleisch, Fisch und Wein, mit Brot und Wasser zu sich genommen hat“. Wenn das Neue Testament über die Ernährungsgewohnheiten Jesu nur sehr spärlich Auskunft gibt und diesen auch als Fleisch- und Fischesser darstellt, lag das für ihn am „oberflächlichen Verständnis der Bibel“ und an offensichtlichen Verfälschungen.

Zu dem problematischen Lammessen während des letzen Abendmahls erklärte er, „dass die Chronologie der Synoptiker (Matthäus, Markus und Lukas – d. A.) in der unfehlbaren Bibel falsch und die des Johannes richtig ist, dass das letzte Mahl Jesu am Gründonnerstag kein Passahmahl gewesen sein kann, weil die Passahlämmer erst am Karfreitagnachmittag geschlachtet wurden“. Laut Johannes sei das Abschiedsmahl ein einfaches „Abendessen“ gewesen. Weder von einem – eine gewisse Üppigkeit andeutenden – „Mahl“ noch von einem „Lamm“ ist dort die Rede.

Vor allem sind es zwei Stellen bei Matthäus, die Skriver als Beleg anführte, Jesus habe den Verzehr von Tieren abgelehnt. So wirft der Nazarener den „Schriftgelehrten und Pharisäern“ vor, dass ihre Becher und Schüsseln „voll Raub und Gier“ seien. Zudem glichen diese Menschen „übertünchten Gräbern, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine“.

Dass „Raub und Gier“ und „Totengebeine“ eine Umschreibung der Tötung und des Verzehrs von Tieren sein sollen, ist zweifellos eine originelle Lesart. Karlheinz Deschner, seit Jahrzehnten Deutschlands schärfster Religions- und Kirchenkritiker, griff allerdings in einem in der Wochenzeitung Die Zeit erschienenen Artikel über die Tierfeindlichkeit des Christentums gerade Jesus an. Denn dieser – so Deschner – „vernichtet zwecks Heilung eines einzigen Menschen – eines der fulminantesten, von allen Synoptikern berichteten neutestamentlichen Strafmirakel – zweitausend Schweine“. Lässt doch Jesus bei der „Heilung des besessenen Geraseners“ dessen Dämonen in eine „große Herde Säue“ fahren. „... und die Herde stürzte sich den Abhang hinunter ins Meer, ihrer waren aber bei zweitausend, und ersoffen im Meer“, heißt es bei Markus über die besonders für einen Vegetarier nicht gerade tierfreundliche Tat, selbst wenn es sich nach jüdischer Auffassung bei den Schweinen um so genannte unreine Tiere handelte.

Über diesen Widerspruch ging Skriver merkwürdigerweise schnell hinweg, indem er bemerkte, dass die von Jesus wildgemachten Schweine „ohne seinen Willen in den See rannten“.

War Jesus nun tatsächlich ein Essener (Essäer), und gehörte strenger Vegetarismus zur Lebensweise jener Gemeinschaft? Die Antworten auf diese Fragen fallen ähnlich widersprüchlich aus wie die Lesarten der Bibel. Für den Göttinger Orientalisten und Bibelwissenschaftler Hartmut Stegemann ist die Sache klar. Zwar sind die Essener auch für ihn die „größte und mächtigste Kraft des damaligen Judentums“, aber: „Jesus hatte, soweit das noch feststellbar ist, keinerlei persönliche Kontakte zu den Essenern.“ In seinem Buch „Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus“ verwies Stegemann darauf, dass Galiläa das Hauptwirkungsfeld von Jesus war, wo es „gar keine Essener gab“. Dagegen vertrat der Theologe Emil Bock 1939 die Auffassung, dass Nazareth, wo Jesus aufwuchs, damals „keine öffentliche Siedlung, sondern eine streng geschlossene Kolonie des Essäerordens war“.

Dass allerdings ein „durchgängiger Vegetarismus bei den Essenern nicht strikte nachgewiesen werden kann“, räumte schon 1935 Johannes Haußleiter in seinem Buch „Der Vegetarismus in der Antike“ ein. Auch die seit Jahrzehnten andauernde Auswertung der Qumran-Rollen hat keine Klarheit gebracht. Zwar ist die Ablehnung von Tieropfern dokumentiert, aber weder essenische Dokumente noch Berichte Außenstehender wie Flavius Josephus (37/38 – um 100) oder der Philosoph Philon von Alexandria (15/10 v. Chr. – um 50) geben Aufschluss über die Ernährungsgewohnheiten dieser Bewohner Palästinas.

Andererseits standen die Qumran-Essener der, wie es heute heißt, Tiernutzung offenbar durchaus aufgeschlossen gegenüber. Die – vorwiegend aus Leder gefertigten – Schriftrollen berichten jedenfalls, dass große Schaf- und Ziegenherden dort eigens zu dem Zweck gehalten wurden, um aus ihren Häuten Rohmaterial für Schriftstücke herzustellen. Sozusagen eine antike Fabrik für Lederakten. Was mit den getöteten Tieren geschah, ist nicht überliefert.

Ob Jesus Vegetarier war, bleibt also Spekulation. Dessen ungeachtet wirft es ein bezeichnendes Licht auf die Ethik des „christlichen Abendlandes“, dass bei einem Fest, das die Geburt eines neuen Lebens zum Inhalt hat, Millionen Leben vernichtet werden.

Ingolf Bossenz, 48, Vegetarier, arbeitet als Redakteur der Zeitung „Neues Deutschland“ in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören Tierrechte und -schutz