Erwischte Christdemokraten in heller Auflösung

Vorbild Italien? Dort hat sich die konservative Democrazia cristiana nach etlichen Korruptionsskandalen einfach selbst eliminiert. Eine Wiedergründung ist zu befürchten

Noch Anfang 1993 wollte niemand ernsthaft daran glauben, dass eine derart staatstragende Säule bereits nach einem Jahr im Orkus verschwunden sein könnte. Sicher, die eifrigen Staatsanwälte der Anti-Korruption-Sonderkommission „Saubere Hände“ hatten sich Zug um Zug vom Mittelbau nach oben vorgearbeitet, Ermittlungsbescheide wegen Schmiergeldannahme und Geldwäsche hatten bereits die Schatzmeister der Democrazia cristiana erreicht, und weitere standen bevor – darunter auch gegen ehemalige Parteichefs und Ministerpräsidenten. Aber wendehalsig, wie die Partei war, wollte sie auch diesmal durch ein paar scheinheilige Reformen den Hals aus der Schlinge ziehen: Der untadelige Mino Martinazzoli stand ihr seit 1992 als Parteisekretär vor, dubiose Gestalten wie der siebenmalige Regierungschef Giulio Andreotti waren aus dem politischen Verkehr gezogen – alles schien wie in den 70er-Jahren, als es einmal bereits stark wettergeleuchtet hatte wegen allerlei Unregelmäßigkeiten und man daher den ehrbaren Aldo Moro zur Galionsfigur erkoren hatten.

Doch dann kam es diesmal ganz anders: Das Wahlvolk mischte sich plötzlich ein. Von ehemals stabilen vierzig Prozent stürzte die Partei in Regional- und Gemeinderatswahlen auf nur noch zehn Prozent ab, Parteichef Martinazzoli zog seinen Verein Mitte 1993 ganz aus dem Wahlverkehr – was den Aufstieg des schon ungeduldig wartenden Silvio Berlusconi mächtig begünstigte. Er gründete Ende des Jahres seine Forza Italia – in der Hoffnung, neben der sich ebenfalls in heller Auflösung befindlichen Sozialistischen Partei (gegen deren Chef Bettino Craxi gleich ein halbes Dutzend Ermittlungsverfahren lief) auch den flüchtenden Christdemokraten ein Auffangbecken zu bieten. Martinazzoli sah nur noch eine Möglichkeit – die Partei aufzulösen.

Anfang 1994 war es so weit, die DC wurde liquidiert. Als Nachfolgeorganisation hoben die verbliebenen einigermaßen sauberen Parteifreunde die „Italienische Volkspartei“ (Partito Popolare Italiano, PPI) aus der Taufe – allerdings um den Preis einer Spaltung: der rechte Flügel machte sich unter dem Namen CCD (Christlich-Demokratisches Zentrum) selbstständig und schlüpfte alsbald unter die Fittiche der Forza Italia; einige Parlamentarier wechselten auch zur neofaschistischen Partei MSI, später Alleanza Nazionale. Die PPI lief zunächst einhellig auf linksliberalem Kurs. Doch Ende 1994, als Berlusconis Regierung – er hatte die Wahlen gewonnen – stürzte, weil die sezessionistische Liga Nord ihm die Gefolgschaft versagte, wollte ein Teil der PPI schell wieder an die Regierung und bandelte daher mit Berlusconi an. Darob spaltete sich die Partei erneut, ein weiterer Rechtsausleger entstand, die CDU unter dem Papst-Ratgeber Rocco Buttiglione. Die Regierung kam nicht zustande, seither wackelt das Parteichen hilflos mit eineinhalb Prozent hin und her.

Doch auch auf der anderen Seite fanden sich EX-DCler zu Gruppierungen zusammen – unter anderem jene, die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando, selbst einst ein DC-Grande, unter dem Namen „La Rete“ leitet.

So hat Italien nun statt der einstigen DC mindestens ein halbes Dutzend Parteien, in denen ehemalige Bosse der Democrazia cristiana an führender Stelle mitwirken. Und wenn nicht alles täuscht, schlüpfen derzeit auch all jene wieder aus ihren Löchern, die vordem heftige juristische Querelen auszustehen hatten und teilweise rechtskräftig wegen Korruption verurteilt sind – und werden gerne und begeistert aufgenommen, denn noch immer verfügen sie über ein ausgedehntes Klientelsystem. Was viele Italiener bereits fürchten lässt, dass die DC in absehbarer Zeit wieder auferstehen könnte. Der ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga hat jedenfalls bereits wiederholt dazu aufgerufen. Werner Raith, Rom