Wissenschaftler an der Jahrtausendwende

Was sind die Verdienste des 20. Jahrhunderts? Und wie geht es jetzt weiter? Die taz befragte Wissenschaftler aller Couleur. Einig sind sich alle: Das vergangene Jahrhundert hat die Welt revolutioniert ■ Von Karin Flothmann

Für Hartmut Graßl beginnt die Revolution des 20. Jahrhunderts mit dem allmorgendlichen Wetterbericht. „Denn spätestens seit 1952“, so erklärt der gelernte Physiker, „sind wir in der Lage, global das Wetter vorherzusagen.“ Schaute der Bauer früher in den Himmel und versuchte, in den Wolken zu lesen, so sind die Meteorologen, zu denen es Graßl verschlagen hat, heute in der Lage, weltweite Messungen vorzunehmen und miteinander zu verknüpfen. Schon in den 50er-Jahren, und darauf ist Graßl besonders stolz, „funktionierte das ganz ohne Computer oder Internet“. Natürlich hat die Physik, mit der sich Graßl auch noch als Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg beschäftigt, mehr hervorgebracht als den Bericht zum Wetter. Da ist Albert Einstein, der 1916 mit seiner Relativitätstheorie den Makrokosmos beschreibt. Da ist Werner Heisenberg, der elf Jahre später mit Hilfe der Quantentheorie den Mikrokosmos erklärte. Und da ist die Physikerin Marie Curie, die für ihre Arbeiten rund um die radioaktive Strahlung gleich zweimal mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Physik bestimmt unser ganzes Leben, sagt Graßl. „Denn ein Apfel fällt immer vom Baum. Und das wird er auch noch in hundert Jahren tun.“ Egal welche Gesellschaftsform dann gerade en vogue ist, welche Staatsform regiert und welche Wirtschaftsform sich durchgesetzt hat.

Als Klimaforscher befasst sich der Physiker Graßl heute mit ähnlichen Phänomenen wie der Chemiker Paul J. Crutzen in Mainz. Crutzen, der am dortigen Max-Planck-Institut für Chemie Atmosphärenforschung betreibt, untersuchte das Ozonloch und dessen Entstehung. Für seine Arbeit heimste er vor vier Jahren den Nobelpreis für Chemie ein. „Heute wissen wir endlich, wie die meisten Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen und welche natürlichen Prozesse dafür sorgen, dass sie sich auflösen“, erklärt er.

Dieses Wissen, so meint Crutzen, ist eine der bedeutendsten Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts. Immerhin können Treibhausgase das weltweite Klima und damit die Lebensbedingungen der Menschheit massiv beeinflussen. Denkt Crutzen an die Zukunft, so bleibt er skeptisch. „Der Mensch will technologisch ständig expandieren“, resümiert er. „Wenn die Menschheit nicht einsieht, dass es nicht immer noch höher, schneller und weiter geht, sehe ich viele Probleme auf uns zukommen.“

Diese Probleme geht der Chemiker und Wirtschaftswissenschaftler Peter Hennicke an. Auch er widmet sich dem Klimakiller Nummer eins, dem Kohlendioxyd (CO2), das Heizungen ebenso entströmt wie dem Autoauspuff. Dem Vizepräsidenten des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie geht es darum, neue Formen der Energiegewinnung und ihrer Nutzung zu erforschen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert, so glaubt er, geht es in puncto Energie „um einen Paradigmenwechsel hin zur Energiedienstleistung und weg vom Berechnen möglichst vieler Kilowattstunden“.

Hennicke setzt auf die Zukunft. Er entwirft Szenarien, die einen verantwortungsvolleren Umgang mit der Umwelt ermöglichen sollen. Neue technologische Entwicklungen wie die Solarenergie oder Brennstoffzellen spielen dabei eine große Rolle. Mit ihrer Hilfe, davon ist Hennicke überzeugt, kann der Energieverbrauch der Welt bis zum Jahr 2050 stabilisiert werden. „Technisch ist das machbar“, sagt Hennicke. Ob Politik und Gesellschaft mitspielen werden, das ist die Frage.

Klimaforscher Graßl bleibt da optimistisch. „Die Menschheit hat bisher immer auch Fehler korrigiert“, sagt er. Das 20. Jahrhundert hat neben furchtbaren Katastrophen „eben auch viel Positives hervorgebracht, zum Beispiel ein gewisses Maß an Wohlstand“. Und dieser Wohlstand basiert im Wesentlichen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die meisten Menschen, die in der westlichen Hemisphäre leben, profitieren davon, glaubt Graßl. Sein Fazit: „Das 20. Jahrhundert hat eben doch mehr gebracht als nur den Fernseher.“

„Die größte Errungenschaft unseres Jahrhunderts ist der Computer“, sagt Christine Keitel. „Aber ohne die Mathematik wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen.“ Keitel, die an der Freien Universität Berlin angehenden Lehrern Einblicke in diese sprödeste aller theoretischen Wissenschaften gibt, ist davon überzeugt, dass in den vergangenen hundert Jahren „eine Mathematisierung der Gesellschaft stattgefunden hat“. Ohne die Lehre von den Formeln und Gleichungen wären Informatiker, Chemiker, Physiker oder Biologen hilflos. Soziologen könnten Gesellschaftssysteme nur schwerlich beschreiben, und Politologen stießen bei der Analyse von Bürokratien auf Schwierigkeiten.

Dagmar Schipanski geht einen Schritt weiter. Für die Physikerin, die bis zum Herbst diesen Jahres an der technischen Unversität Ilmenau Festkörperelektronik lehrte, war die Erfindung des Transistors „bahnbrechend für das 20. Jahrhundert“. 1947 bauten amerikanische Wissenschaftler den ersten Halbleiterverstärker zusammen. Von da an nahm die Geschichte der Mikroelektronik ihren Lauf. Silizium-Chips von der Größe einer Briefmarke haben die ersten Schaltelemente heute längst ersetzt. „Ohne sie“, so erinnert Schipanski, „ist unser Alltag kaum noch denkbar.“

Natürlich hat diese Entwicklung den Alltag revolutioniert. Das sieht auch Josef Weizenbaum. Der Mathematiker, der von 1963 bis 1988 am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston Informatik lehrte, kennt die Geschichte der modernen Informationstechnologien von ihren Kindesbeinen an. Der erste Computer, den er entwickelte, hatte die Größe einer Garage. Das erste Modem, mit dem er Konktakt zur Welt aufnahm, war so groß wie ein Kühlschrank. Inzwischen ist alles kleiner, schneller, leistungsfähiger geworden. Dennoch kann Weizenbaum den Enthusiasmus mancher Politiker nicht teilen, die der Zukunft am liebsten auf der Datenautobahn entgegenrasen würden. „Computer und Internet“, so meint er, „sind doch nur Arbeitsmittel zum Zweck.“ Viel wichtiger hingegen sei 1953 die Entschlüsselung der DNS-Struktur gewesen. „Ich glaube, das 21. Jahrhundert steht ganz im Schatten der Biotechnologie“, ist Weizenbaum überzeugt. Und dieser Technologie traut er nicht über den Weg. Seine Horrorvision der Zukunft: „Es wird Versuche geben, den Menschen künstlich zu reproduzieren.“

Dagmar Schipanski, die als Wissenschaftsministerin von Thüringen inzwischen auf die Seite der Politik gewechselt ist, hält solche wissenschaftlichen Fiktionen für ausgemachten Humbug. „Dieses Jahrhundert war eines der großen physikalischen und technischen Entdeckungen“, resümiert sie. Im 21. Jahrhundert, so glaubt auch Schipanski, „wird die Biologie diese Rolle übernehmen“. Wichtig werden dann die Grenzbereiche zwischen Biologie und Technologie, zwischen elektronischen Chips und lebendem Gewebe. Der Herzschrittmacher ist schon heute ein gutes Beispiel für solche eine Entwicklung. Künftig, so glaubt sie, „wird es beispielsweise möglich sein, Gichtkranken künstlich-organische Steuermechanismen zu implantieren, damit sie ihre Hände wieder schmerzfrei bewegen können.“

Regine Kollek bleibt angesichts solcher Visionen skeptisch. Das ist ihr Job, die Biologin leitet an der Universität Hamburg eine Forschungsgruppe zur Technikfolgenabschätzung der modernen Biotechnologien. Die Entdeckung des genetischen Codes und die Geburt der Gentechnologie sind für Kollek die einschneidendsten Entwicklungen des zu Ende gehenden Jahrhunderts. „Künftig geht es darum, wie weit wir in die menschliche Natur eingreifen werden.“ Schon heute ist es möglich, Lebensmittel gentechnisch zu verändern. Entsprechend manipulierte Pflanzen werden freigesetzt und niemand weiß, wie sie die Natur beeinflussen werden. Und im Bereich der Medizin unterstützt diese Technologie Mediziner bei der Früherkennung erblich bedingter Krankheiten. Kollek beobachtet diesen Fortschritt kritisch. Was, so fragt sie sich, macht ein 30-Jähriger, wenn er erfährt, dass er im Alter an Alzheimer erkranken wird? Und wie reagieren Kranken- oder Lebensversicherungen auf die wissenschaftlich erwiesene Gewissheit?

„Die Möglichkeiten der Biotechnologie werden das Verständnis vom menschlichen Leben grundlegend verändern“, sagt Kollek. Neue Entscheidungszwänge werden auftauchen. Konflikte in der Gesellschaft sind programmiert. Im 21. Jahrhundert, so meint die Biologin, „muss die Menschheit neue moralische und soziale Kompetenzen entwickeln, wenn sie mit dieser Technologie mithalten will“. Die Mathematikerin Christine Keitel setzt lieber auf mehr Rationalität. Wäre die schon heute vorhanden, dann hätte niemand am 31. Dezember 1999 der Millenniumshysterie frönen müssen. „Denn eigentlich ist das 20. Jahrhundert zu Silvester noch gar nicht vorbei.“ Als Mathematikerin muss Keitel es wissen. Doch im Gegensatz zu den Zahlenreihen und Gleichungen, mit denen sich die Professorin im Alltag befasst, ist der Gregorianische Kalender kein logisches Kunstwerk der Mathematik. Der Kalender kennt keine Null. Er beginnt im Jahr eins nach Christus. Der echten Jahrtausendwende fehlt genau ein Jahr.