Die Faszination der Zahlen

Rechnen – einst und heute. Das Arithmeum in Bonn hat mit mehr als 1.200 Exponaten die weltweit größte Sammlung von historischen Rechenmaschinen zusammengetragen ■ Aus Bonn Karin Flothmann

Am Anfang war die Zahl. In grauer Vorzeit gab es zunächst die Eins und die Zwei. Standen mehr als zwei Menschen zusammen, so waren es eben viele. Zur genauen Definition von Besitztümern oder Viehbestand reichte das natürlich nicht aus. Je mehr Zahlen hinzukamen, desto komplizierter wurde es, sie zu berechnen oder festzuhalten. Zunächst halfen da Kerben in einem Stück Knochen oder Knoten auf einer Schnur weiter. So viel Speicherplatz, wie heutige Mikroprozessoren, boten sie nicht. Doch ihren Zweck erfüllten sie bis weit ins letzte Jahrtausend. Noch bis ins 15. Jahrhundert hinein benutzten zum Beispiel die Inkas Knotenschnüre, um mit ihrer Hilfe zu rechnen.

Knochen, Knoten und Kiesel, das sind die Zutaten, mit denen das Bonner Arithmeum seit vergangenem Herbst in das „Rechnen einst und heute“ einführt. Betritt der Besucher das gläserne Gebäude in unmittelbarer Nähe des Bonner Hofgartens, dann deutet zunächst jedoch noch nichts auf diese rudimentären Rechenmaschinen der Vorzeit hin, denn die sind in der dritten Etage untergebracht. Das Parterre hingegen widmet sich zunächst den Rechenmaschinen der letzten hundert Jahre.

Insgesamt 1.200 solcher Maschinen zählen zum Fundus des neuen Museums. Rund die Hälfte von ihnen kann der Besucher selbst erproben. Darunter auch diverse „Sprossenradmaschinen“, die nach 1850 serienmäßig hergestellt wurden und nicht selten an verschnörkelte Registrierkassen aus dem Kolonialwarenladen erinnern. Konnten die ersten mechanischen Wunderwerke nur addieren oder multiplizieren, so beherrschten diese Maschinen alle vier Grundrechenarten. Mit Hilfe kleiner Schieber, Hebel und einer Kurbel berechnet eine „Sprossenradmaschine“ jedes Ergebnis. Will der Besucher etwa wissen, wieviel 2.634 mal 6.895 ist, so sollte er zunächst die beiden Zahlen mit Hilfe kleiner Schieber einstellen. Anschließend muss ein kleiner Hebel betätigt werden, der festlegt, dass die Maschine diese beiden Zahlen nicht addieren, sondern miteinander multiplizieren soll. Alles weitere erledigt die Kurbel, die außen am metallisch glänzenden Gehäuse befestigt ist. Während der Besucher sie einmal kräftig dreht, rattert und klappert es. Im verborgenen Inneren der Maschine greifen Zahnräder und Walzen ineinander. Dann taucht in der Resultatleiste das Ergebnis auf: 18.161.430.

Steigt der Besucher über freischwingende Treppen in die oberen Etagen des Arithmeums, so trifft er hier auf die Frühgeschichte des mechanischen Rechnens. Da steht etwa die „rechnende Turmuhr“ des italienischen Mathematikers Giovanni Poleni von 1709, die mit Hilfe von Zahnrädern, Gewichtsantrieb und Spindelhemmung addieren kann. Andere Rechner benutzen Walzen, um mit ihrer Hilfe Subtraktion und Addition zu meistern. Und eine kunstvoll verzierte, goldene Torte entpuppt sich als zylindrische Rechenmaschine des Wiener Hofmechanikus Anton Braun aus dem Jahr 1727. Rechnen kann niemand mit dieser Torte. Die Unvollendete beeindruckte Kaiser Karl VI. dennoch. Er nahm sie in seine Kunstkammer in der Wiener Hofburg auf.

Bernhard Korte kennt fast all diese Rechenmaschinen aus dem Effeff. Am vertrautesten ist ihm die „Brunsviga M“ aus dem Jahr 1908. Als Mathematikstudent erstand er sie Anfang der 60er Jahre bei einem Trödler. Die komplizierten Innereien der Maschine weckten damals seine Sammelleidenschaft. Doch das Arithmeum dient dem Mathematikprofessor nicht nur als ein Ort, der seine inzwischen recht umfangreiche Maschinensammlung in stilsicherem Ambiente zur Geltung bringt. Nein, Kortes Devise lautet: „Ich will zeigen, dass Wissenschaft nicht nur spannend und faszinierend, sondern auch lustvoll sein kann.“

Großrechner und Computer sucht der Besucher daher vergeblich. „Graue Kleiderschränke sind keine besonders faszinierenden Museumsobjekte“, meint Korte. Das Arithmeum zeigt daher nur das Herzstück moderner Computer: den Mikroprozessor, auch Chip genannt. In einem Schälchen liegen einige dieser daumennagelgroßen, beschichteten Siliziumplättchen. Auf den ersten Blick wirken sie unscheinbar. Erst unter dem Polarisationsmikroskop entdeckt der Besucher ihre filigranen Strukturen. Und mit Hilfe eines animierten Computerprogramms kann er am PC sogar einen kleinen Chip entwerfen.

Zunächst geht es dabei darum, kleine, wie Legosteine anmutende Kästchen möglichst optimal auf einer Platte anzuordnen. Neun mehrfarbige Legosteine, die im wirklichen Computerleben Transistoren heißen und die Schaltelemente auf einem Chip sind, stehen zur Auswahl. Sind sie per Mausklick plaziert, wird der Besucher aufgefordert, alle neun Elemente miteinander zu verbinden. Im echten Computerleben geschieht dies mit Hilfe hauchdünner Drähte, die so fein sind, dass ihr Durchmesser nicht in Millimetern, sondern in Nanometern, also dem Milliardstel eines Meters, ausgedrückt wird. Am PC stehen dem Tüftler farbige Linien zur Verfügung. Natürlich gibt es Vorgaben: Rote Legosteine sollen mit roten verknüpft werden, blaue mit blauen und die gelben mit ihren gelben Artgenossen. Die Verbindungen dürfen sich zwar kreuzen, doch niemals parallel zueinander laufen.

Wer lang genug am PC herumknobelt, kommt irgendwann auf eine passable Lösung – und hat damit auch gleich ein Stück Chipdesign geschaffen. Noch in den 60er Jahren wurden Chips auf diese Weise bestückt. 1961 passten immerhin nur vier Transistoren auf ein Siliziumplättchen. 1985 waren es schon 132.000, inzwischen sind es 25 Millionen und mehr. Rund 300 Meter Draht verknüpfen heute die einzelnen Elemente auf komplizierte Weise miteinander. Mit Tüftelei lässt sich das nicht mehr bewältigen. Korte und seine Institutsmitarbeiter plazieren die „Legosteine“ daher mit Hilfe komplizierter Algorithmen. Auf diese Weise schaffen sie die Baupläne, mit deren Hilfe Ingenieure anschließend den Chip konstruieren.

Neben Knochen und Kieseln, „rechnenden Turmuhren“ oder mechanischen Registrierkassenrechnern können Besucher auch diese Baupläne im Arithmeum bewundern. Sie schmücken – stark vergrößert und koloriert – den Eingangsbereich des Museums. Wer die Drucke zum ersten Mal betrachtet, denkt sofort an abstrakte Kunst. Für den Mathematiker und Chipdesigner Korte ist diese Analogie selbstverständlich: „Die Ästhetik ist für mich die einzige Motivation Mathematik zu betreiben.“