Der „Kanzler der Einheit“ hat die Gesellschaft tief gespalten
: Kohl hat nicht nur seine Ehre verspielt

Der Sturz des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl mag noch so tief sein, was bleibt, sind seine historischen Verdienste. In kaum einem Kommentar wird auf diesen Hinweis verzichtet. Helmut Kohls Leistungen für den deutsch-deutschen Einigungsprozess, die Erweiterung der EU und die politische Stabilität der Bonner Republik, sie scheinen außer Frage zu stehen. Ebenso einheitlich wirkt die Einschätzung, dass es sich bei ihm um einen der größten europäischen Politiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt. Eine grandiose Überschätzung. Ganz offensichtlich wird hier Kohls zweifelhafte Bedeutung für die CDU mit der für Deutschland oder gar Europa verwechselt.

Historische Leistungen und historische Größe erweisen sich erst im Rückblick. Und da zeigt sich schon heute: Helmut Kohl hat viel mehr als nur seine Ehre verspielt. Auch seinem Spätwerk, der deutsch-deutschen Einigung, fügt er nun ernsthaften Schaden zu. Bereits seit Mitte der Neunzigerjahre zeigt sich, dass die Annäherung der Ostdeutschen an das politische System der Bundesrepublik nach anfänglicher Euphorie nur langsam von statten geht. Schuld daran, so die Interpretation der CDU, sind die Postkommunisten der PDS und vierzig Jahre antidemokratische DDR-Erziehung. Die Christdemokraten kamen nicht auf den Gedanken, dass sie selbst Teil des Problems sein könnten, dass zehn Jahre nach dem Fall der Mauer Demokratie, Pluralismus, Individualismus und die Marktwirtschaft nur auf verhaltene Zustimmung stoßen.

Tatsächlich ist es der CDU-Regierung unter Führung Kohls nie gelungen, bei den Ostdeutschen echte Lust auf Demokratie, Einmischung und Partizipation zu entwickeln. Wie sollte sie auch? Wird in diesen Tagen doch das ganze tragische Ausmaß einer durch ihren Patron verstörten und zerstörten Partei offensichtlich. Einer Partei, die mit wenigen Ausnahmen nicht viel mehr als Opportunisten, Mitläufer und beschädigte Persönlichkeiten hervorzubringen scheint. Solche Leute überzeugen nicht, solchen Leuten traut man nicht.

Die demokratischen Institutionen im Westen mögen stabil genug sein, um die Krise der CDU zu bewältigen. Anders wird es in Ostdeutschland sein, wo man sich inmitten eines mühsamen Prozesses des Aufbaus einer Zivilgesellschaft befindet. Hier werden Helmut Kohl und seine Partei verheerende Wirkungen hinterlassen. Das ohnehin bereits große Misstrauen gegenüber dem Parlamentarismus, gegenüber dem Westen wird eindrucksvoll bestätigt. Die Partei der Nichtwähler wird wachsen, und die rechtsextreme Ungleichheitsideologie der DVU und der NPD wird bei Teilen der Jugendlichen auf noch fruchtbareren Boden fallen.

Die Ausländer werden wieder einmal die Leidtragenden dieser politischen und gesellschaftlichen Destabilisierung sein. So wies der Leipziger Sozialforscher Peter Förster kürzlich darauf hin, dass die ausländerfeindliche Haltung der jüngeren Bevölkerung Ende der 90er-Jahre einen historischen Höchststand erreicht hat. Die Toleranz hingegen sackte auf einen Tiefststand. Die CDU befördert diesen Prozess, denn Försters Studie ergab, dass die Ausländerfeindlichkeit umso stärker zunimmt, je geringer die „gesellschaftlichen Bindungskräfte“ sind. Die Parteien tragen entscheidend dazu bei, diese Bindungsfähigkeit herzustellen.

Nein, Helmut Kohl ist kein Kanzler der Einheit, sondern einer der Desintegration. Seine wirkliche historische Leistung besteht darin, die Nation gespaltet zu haben. In Ost- und Westdeutsche. In Deutsche und Ausländer. In Arme und Reiche. Helmut Kohl hat mehr zur sozialen Spaltung der Gesellschaft beigetragen als je ein Bundeskanzler vor ihm. Seit den frühen Sechzigerjahren haben noch nie so wenig Kinder aus sozial schwachen Familien die Universitäten besucht wie heute. Selten zuvor erfolgte eine so massive Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben wie unter Kohl. Noch nie lebten so viele Kinder in Armut und von Sozialhilfe wie seit 1983. Man muss schon ein ehrenwertes Mitglied der gesellschaftlichen Mitte sein, um das alles als historische Leistung zu begreifen. Eberhard Seidel