„Wenigstens Gerechtigkeit“

■ Ohne die juristische Aufarbeitung der Diktatur kann es keine Gerechtigkeit geben, sagt die chilenische Menschenrechtlerin Fabiola Letelier. Und sie hat die Hoffnung, dass der neue Präsident Chiles eine Strafverfolgung Pinochets akzeptieren wird

taz: Die chilenische Regierung hat ihre Forderung nach Freilassung Pinochets damit begründet, dass die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter Pinochet innere Angelegenheit Chiles sei. Erwarten Pinochet am Flughafen von Santiago schon die Carabineros?

Fabiola Letelier: Die Regierung lügt, wenn sie ein juristisches Verfahren verspricht. Unter Führung des Außenministeriums hat die bisherige Regierung eine regelrechte Globalstrategie entwickelt, um die Freilassung und Rückkehr Pinochets nach Chile zu erreichen. Dazu gehört die Behauptung, der Fall Pinochet sei Sache der hiesigen Justiz. Der Justiz aber sind die Hände gebunden. Die Immunität, das Amnestiegesetz, das alle Verbrechen der Militärdiktatur umfasst, und die Militärgerichtsbarkeit, die die Militärs außerhalb des bürgerlichen Gesetzes stellt, sind fast unüberwindliche Hindernisse für das Zustandekommen eines Prozesses gegen Pinochet.

Warum ist ein Prozess gegen Pinochet von solcher Bedeutung für Sie? Ist er mit seiner Verhaftung nicht bereits vollends desavouiert?

Pinochet ist verantwortlich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nur ein Prozess kann dies anerkennen. Unsere Toten werden davon nicht wieder lebendig, aber ihnen und ihren Angehörigen würde wenigstens Gerechtigkeit widerfahren. Deshalb haben sich die Opfer, ihre Angehörigen und die Gegner der Straflosigkeit mit aller Kraft dafür eingesetzt, dass Pinochet vor Gericht kommt. Und wir waren in gewissem Sinn erfolgreich. Denn die Anklagen des spanischen Untersuchungsrichters Garzón stützen sich im wesentlichen auf Fälle, die wir untersucht und dokumentiert haben. Insofern trifft auch das Argument der Regierung nicht zu, dass das Ausland über eine interne Angelegenheit Chiles entscheidet.

Seit Herbst letzten Jahres befinden sich einige hochrangige Vertreter der Diktatur in Untersuchungshaft. Gegen viele von ihnen laufen Verfahren. Sind das Hinweise, dass sich auch in der chilenischen Justiz neue Kräfte heranbilden, die die Menschenrechtsverletzungen juristisch aufklären wollen?

Zweifellos ist das so, und diese Veränderungen in der chilenischen Justiz wurden erst durch die Verhaftung Pinochets möglich. Es gibt mittlerweile mehrere Richter, die sehr professionell und detailliert Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verfolgen. Aber es ist äußerst kompliziert, die noch von der Diktatur eingebauten Hindernisse zur Strafverfolgung zu überwinden. Dass Richter Guzmán zum Beispiel überhaupt 56 Klagen gegen Pinochet untersuchen kann, liegt daran, dass er von einer permanenten Entführung der verhafteten Verschwundenen ausgeht, also einem nach wie vor anhaltenden Verbrechen. So kann er selbst Menschenrechtsverletzungen untersuchen, die zwanzig Jahre zurückliegen.

In Deutschland hat es 16 Jahre gedauert, bis ein deutsches Gericht 1961 in einem großen öffentlichen Prozess Nazi-Verbrecher verurteilte. Glauben Sie, dass die chilenische Gesellschaft auch einen solchen „Schlüssel-Prozess“ braucht, um sich mit der Pinochet-Diktatur und ihren Folgen auseinander zu setzen?

Allerdings, denn nur so kann ein gesellschaftlicher Konsens über die Bedeutung der Menschenrechte erarbeitet werden. Aus der Strafverfolgung entsteht hoffentlich eine Kultur der Menschenrechte. Immerhin sprechen sich nach letzten Umfragen 70 Prozent der chilenischen Bevölkerung für einen Prozess gegen Pinochet aus. Und noch etwas macht mir Hoffnung. Als Ricardo Lagos vor zwei Wochen zum neuen chilenischen Präsidenten gewählt wurde, gab es eine große Siegesfeier mit 60.000 Menschen. Er hielt die übliche Dankesrede. Plötzlich kam aus der Menge laut und nachdrücklich die Forderung: „Verurteilt Pinochet, verurteilt Pinochet!“ Uns alle hat das sehr bewegt. Lagos musste seine Rede ändern und zu Pinochet Stellung nehmen, was während des gesamten Wahlkampfes nicht geschehen war. Und zum ersten Mal versprach Lagos, dass er die Maßnahmen der Justiz akzeptieren werde. Damit hat er seine Bereitschaft signalisiert, die juristische Verfolgung der Verbrechen zuzulassen.

Interview: Katja Maurer