Was eine Nation ist

■ Die „Musikschau der Nationen“ ist ein Etikettenschwindel: Militärkapellen sind kulturell entwurzelt. Ein Masochist berichtet

„Qu'est-ce qu'une nation?“ – „Was ist eine Nation?“ fragte Ernest Renan 1882. In Ermangelung verlässlicher Kriterien kam er zu dem Schluss, dass eine Nation sei, was eine sein will. Wer sich von der Musikschau der Nationen in der Bremer Stadthalle empirischen Aufschluss erhofft hatte, was die eine Nation von der anderen unterscheide, wurde bitter enttäuscht.

Zunächst einmal haben die beteiligten Militärorchester vieles gemeinsam: Vor allem präsentieren sie alle das Militär von seiner niedlichen Seite, und das so überzeugend, dass man sie kaum ernst zu nehmen vermag. Ein Orchester nach dem anderen kommt aus einer Nippesversion des Bremer Rathauses marschiert, durch ein Tor, das in die Vorderfront geschummelt wurde. Dann marschieren sie die Stadthalle auf und ab, im Kreis und durch die eigenen Reihen. Dabei spielen sie ohne Unterlass und wenden dazu jede Menge Lungenkraft auf. Der meist hochdekorierte Dirigent schreitet erst an die Arbeit, nachdem ein Hilfsdirigent den Anheizer gemacht hat. Der darf dann nur noch den Regimentsstab in die Luft werfen und wieder auffangen.

Natürlich gibt es auch Unterschiede: Zum Beispiel schmeißt niemand den Stab so hoch wie der Franzose, der nur knapp die Dachkonstruktion der Halle verfehlt. Überhaupt, die Franzosen: Wäre ihre Hymne nicht schon beim gemeinsamen Einlaufen aller Orchester missbraucht und damit als allgemeine Menschheitshymne geoutet worden – sie kämen dem am nächsten, was man für eine Nation hält. Sie tragen die charakteristischen Flic-Deckel auf dem Kopf, die wir alle von Louis de Funès kennen. Sie haben ihre typischen Fanfaren dabei. Sie können nicht nur blasen, sondern auch noch singen und pfeifen. Und irgendwie meint man sogar, in ihrem Marschieren jene gewisse Leichtigkeit zu erkennen, die ihnen immer unterstellt wird. Bei aller militärischer Exaktheit erinnert ihr Vortrag an einen Sonntagsspaziergang.

Den Maltesern, die bei der 36. Musikschau debütieren, merkt man ihre mediterrane Heimat dagegen überhaupt nicht an. Keinerlei eigene Identität verraten die zackigen Bewegungen und die verkniffene Marschmusik aus dem Lehrbuch der britischen Kolonialmacht. Die hat es besonders arg getrieben mit den Royal Gurkhas: In Nepal rekrutiert, kämpften sie in Indien und im Falkland-Krieg und waren bis zu dessen Rückgabe in Hong Kong stationiert. Heute haben sie ihren Standort in Südengland – wie sollen die sich als Nation fühlen? Kein Wunder, dass sie transatlantischen Army-Jazz zusammen mit traditionellen Messerkämpfen auf die Bühne bringen, und danach Sirtaki.

Auch die Armee des jungen Weißrussland scheint kulturell noch nicht sehr festgelegt: Ihr Ballett tanzt dem Bremer Publikum unter dem alten Ostblock-Motto „Völkerfreundschaft“ ein panslawisches Folklore-Potpourri vor.

Nur die Gebirgsjäger aus Garmisch und Partenkirchen (ist das nicht dasselbe?) scheinen genau zu wissen, was eine Nation auszeichnet: Als sie das Lied der Deutschen anklingen lassen, ist es endgültig genug. Zwischenfazit: Nationen kann man weder schauen noch horchen, die ganze Veranstaltung ist ein Etikettenschwindel. Geld zurück, subito! Und kein Gejammer, Herr Borttscheller, dass Sie das für Ihre Kriegsgräber brauchen, sonst petzen wir, dass Sie Sich immer noch mit „Senator“ anreden lassen, obwohl da jetzt „Abgeordneter“ und „Anwalt“ hingehört. not